Abschließendes, momentanes, durchaus widerlegbares Manifest

Es bewegt sich etwas. In mir, in dir, in dieser Welt. Es entsteht eine Vielfaltskultur. Diversität, die uns wachsen lässt, die uns gegenseitig anreizt, uns zu entwickeln und zu erleben. In unserer Identität, in unserem gemeinsam, in der Natur. Ich bin AUCH schüchtern und mutig, AUCH bewusst und tollpatschig, AUCH stark und verletzlich, AUCH elegant und frech, AUCH kreativ und stur, AUCH energetisch und ruhig, überall gibt es ein AUCH. Und dieses AUCH macht uns lebendig. Es gibt uns die Möglichkeit zu wandeln. Uns mit der Welt um uns herum zu bewegen, uns mit jedem Lebewesen auszutauschen. Es gibt uns die Möglichkeit uns zugehörig zu fühlen, und uns einen Weg zu suchen, der den versteckten Teilen in uns Raum gibt. Menschen, die unbekannte Dinge in uns auslösen. Menschen, die Unbekanntes in sich entdecken. Es gibt uns die Möglichkeit neugierig zu bleiben und uns daran zu erinnern, dass es immer weitergeht. Dass wir genauso, wie wir gerade fühlen, nur jetzt fühlen, aber dass es diesen Teil in uns gibt, der sich immer wieder in verschiedensten Formen zeigen kann. In uns und miteinander. Wir sind AUCH zusammen und getrennt. Wir sind für die andere da, und gleichzeitig für uns selbst. Wir lieben sie und AUCH sie. Die Frage ist für mich, wie geben wir diesem AUCH Platz, wo unser Verständnis von Wahrheit und Authenzität geprägt ist von einem ODER? Wo wir alles veruchen ins kleinste Detail herunter zu brechen um es zu verstehen, es aus dem Gesamtbild herausfiltern und in seiner Einzelform zu betrachten. Wo sich ein Bauer für ein Gemüse entscheidet und alle Kraft hineinsetzt um den Rest der Welt von ihr ferzuhalten. Wo jeder Mensch eine Nationalität hat, jeder Ort ein Bild, jedes Land eine Moral. Wo es ein gut, und ein schecht gibt und ich mich für eines davon entscheiden muss.

Ich sehe das Wegbewegen dieser Werte in so vielen Richtungen in meinem Leben und ich entscheide mich für ein AUCH, welches mich, gemeinsam mit den Menschen um mich herum gestalten und kreieren lässt. Ich will, dass Pflanzen, Tiere und Menschen miteinander sind, und jeder sein darf, einen Teil formt, seinen Bedürfnissen angepasst in dem selben Moment. In der Landwirtschaft, in der Liebe, in der Sexualität, in der Politik. Dass wir als Queere Szene, in einer globalen Welt, gemeinsam als Teil der Natur, einander auf Augenhöhe begegnen.

Ich will mich bedanken. Bei den Menschen, die mich inspiriert haben, mich an solche Gedanken zu wagen. Meine Eigenen zu hinterfragen, meine Glaubenssätze aufzugeben und mir Neue zu überlegen.

Ich will mich bedanken bei den Menschen, die immer an mich geglaubt haben und von denen ich weiß, dass sie das auch weiterhin tun. Die mich gesehen haben, als diejenige, die ich in dem Moment war, die mich ernst genommen haben in meinem Sein. Ich will mich bedanken für die, die den Weg ausgewählt haben, der ihnen, von tiefstem Herzen als richtig erscheint. Für den sie manchmal so gefrustet waren, weil es so viel Mut, so viel Kraft, so viel Ehrlichkeit erfordert. Weil es weh tut und Angst macht und es keine Beispiele gibt. Weil der eigene Weg nur einmal gegangen wird und zwar von einem selber.

Ich will mich bedanken für all die Geschichten, die meine Welt vergrößtert, meinen Blick erweitert, meine Sinne geschärft, meine Gefühle platziert und meine Seele inspiriert haben. Danke für die wunderschönen Seiten, die sie mir gespiegelt haben; sie haben sie manifestiert, zum Leben erweckt. Ich vermisse sie, diese Menschen. Die mich an all das erinnert, mir abgenommen haben, mich selber wertzuschätzen. Die einfach waren, wodurch ich einfach sein durfte.

Seit 1,5 Monaten bin ich wieder hier. Und die Reise geht weiter. Ich trage das Erlebte in mir, doch spüre es wandeln. Sich anpassen, an das Jetzt. Das Bedürfnis auf dem Boden zu essen, wird schwächer; die beständige Liebe, die Sicherheit und das Vertrauen, dass alles was passiert, richtig ist, verändert sich. Alte Ängste kommen auf, alte Wunden werden sichtbar, alte Muster werden wach.

Ich will mich auch bedanken für die Distanz. Die Distanz zu meiner Geschichte, zu meiner Muttersprache, zu meinem alten Bild von mir und zu meiner täglichen Routine. Neue Sprache, neuer Ort, neues Tun. Ich hatte die Möglichkeit, obwohl ich mich so zuhause gefühlt habe an dem Ort, nicht mit ihm zu verschmelzen. Ich habe mich immer wieder wieder gespürt, in dem selben Moment, bin meinem Impuls gefolg, habe für mich mein neues Ich kreiert. Ich wusste, dass ich auf mich selber gestellt bin mit der Unterstützung von Etlichen um mich herum. Dass ich es hinkriege, was auch immer passiert.

Diese Kraft war irgendwann ausgeschöpft, hat sich verloren. Dieses Vertrauen, dass ich, einfach nur weil ich ich bin, den Weg finde, der gut für mich ist. Der Wille, wirklich das zu tun, was mir gut tut. Der Mut, dass zu zeigen, was ich fühle. Obwohl ich anderes gewöhnt von mir bin, obwohl ich jemand anderes zu sein schein. Umso mehr die Zeit dort, die Wörter, die Menschen, die Kultur, dass Essen, die Landschaft, die Körpersprache, die Musik ein Teil von mir geworden ist, umso mehr war ich involviert, umso näher gingen mir die Erlebnisse, der Schmerz, die Einsamkeit und die traurigen Blicke. Wie die der anderen, so die meinen. Und jetzt wo ich hier bin, bin ich einfach ganz da. Mein Schutz ist weg, die Distanz hat sich aufgelöst. Ich suche nach hier Händeringend um mich selber noch zu spüren. Dinge überwältigen mich, doch ich meine sie zu kennen. Ich meine wissen zu müssen, wie mensch mit ihnen umzugehen hat. Mir fehlt die Geduld und das Vertrauen, sie einfach geschehen zu lassen. Sie mich überkommen, ansupsen, aufwühlen und auch wieder gehen zu lassen. Mir fehlt dieser beobachtende Blick auf eine Szene, bei der ich weiß, dass ich sie einfach wieder verlassen kann. Dass die Szene nur eine Szene ist, und ich ein Zuschauer. Dass mein Blick nur eine Perspektive ist, nur ein Winkel von einem riesigen Bild. Dass ich nur eine Darstellung von Geschichte und Gegenwart, Werten und Träumen, Gefühlen und Eigenschaften bin, die jeder anders wahrnimmt. Dass du sein darfst und ich auch, dass du du bist und ich ich, dass wir frei sind. Dass wir nicht eins sein müssen um uns zu lieben. Dass unser gemeinsamer Weg dort gemeinsam ist, wo wir ihn gehen.

Ich will mich entscheiden. Für das AUCH. Für Beziehungen, in denen wir unser „RICHTIG“ selber kreieren, in denen wir wandelbar sind, in denen Veränderung erwünscht ist. Beziehungen, die mich nicht einschränken, sondern uns die Basis schenken, zu kreieren. In der ein WIR und ICH ist. In denen wir Verantwortung für unser eigenes Glück übernehmen, in denen wir Räume schaffen, ganz wir selber zu sein und uns zu trauen, unsere Liebe zu zeigen und anzunehmen, auf unsere ganz eigene Art.

Das Jahr in Israel war mehr als ein ODER. Es war die Bestätigung, dass ich auf dem richtigen Weg bin, dass ich mich irgendwo zwischen Sonnen und Schatten bewege, und beides zu mir gehört. Dass ich keine Legitimation in den Anderen suchen muss, um sein zu dürfen.

Als ich vor 3 Wochen in Enschede das Buch (Badulina) vergessen habe, hatte ich plötzlich ganz große Angst. Dass mein Hebräisch verloren gehen würde und damit all das Gelernte, all das Erfahrene und Erlebte. Als wäre das Buch der einzige Faden gewesen, der mich damit noch verbinden würde, der mir den Halt geben würde und das Vertrauen, dass diese Zeit für immer ein Teil von mir sein wird. Ich habe mich plötzlich ganz verloren gefühlt, ganz allein auf der Suche nach meinem eigenen Leuchten.
Manchmal brauche ich eine Erinnerung. Etwas oder jemand, der mir sagt: Du bist genau richtig, so wie du bist. Du darfst. Du weißt. Du kannst. Ja, ich weiß, wohin es geht. Ich darf meinem Gefühl vertrauen und daran glauben, dass das passiert, was passieren muss. Ich kann nichts vorraussehen und es gibt kein Zurück. Ich habe alles, um dem Jetzt zu begegnen. Ich darf Scheinen und Leuchten und einfach nur Sein.

Mit neuen Augen

Ich fahre nach Poing. Eine Siedlung außerhalb Münchens, mit einer gräßlichen neuen Unterführung und auch sonst wenig populär. Doch meine Oma wohnt da. Sie wartet beim Italiener. Ihr Hund, irgendwie viel zu dick, er hat etwas Monsterartiges, bellt als ich auf die beiden zukomme. Nach ein paar Minuten hat er sich beruhigt. Oma fragt die paar üblichen Fragen, dann kommen wir auf das Kindermädchen, dass ihre Familie damals „vom Hitler“ gestellt bekommen hatte und den Hausherrn,d er mit einer Jüdin verheiratet war. Sie erzählt von den Wildschweinen, die sie die eineinhalb Stunden Fußweg vom Schloss in die Stadt zur Schule begleitet haben und der Sailbahn, in die sich die 4 Kinder heimlich beim Rückweg hineingesetzt haben. Ich beende mein Essen und hole mir eine Karotte aus der Tasche. Gut wars, aber ich hab immer noch Hunger. Die Hündin Lisa winselt und schaut mich mit großen Augen an. Ich reiche ihr meine Karotte und sie verschlingt sie. „Na so was?“ Meine Oma ist erstaunt. Lisa klaubt die letzten Krümel auf und schaut mich erneut an. Ich krame in meiner Tasche und reiche ihr ein weiteres Stück. „Des gibt’s ja gar ned!“ Wir gehen zum 5-Stände Freitags-Markt, kaufen ein Pfund Karotten und gehen nach Hause. Ich schaue mich um. Das hässliche Poing ist heute gar nicht so schlimm. Wir kommen zu dem Häuserkomplex wo meine Oma schon 40 Jahre lang wohnt und unser Blick wird von einem Baum gefangen. Giftgrün! Noch nie hab ich so eine Farbe gesehen an einem Baum. Höchstens mal die neusten Blätter oder Nadeln, die in der Mitte zwischen den alten herausluken und sich ihren Weg bahnen, bis sie dann doch dunkel werden. „Hier bleib ich jedes Mal stehen! Mei und schau, mit den Schäfchen-Wölkchen!“

Wir gehen zur Hundewiese, die jetzt wie ein Flickenteppich aufgeteilt ist in Teile für Schmetterlinge und Bienen und Teile für… grüne Teile eben. In der Mitte ein Kirschbaum. Ich glaube es ist das zweite Mal in meinem Leben, dass ich in Deutschland wilde Kirschen esse. In Israel waren die sünd-teuer. „Dieses Jahr gibt es alles zu Haufen! Die Nüsse so rund wie nie, die Wiesen bunt und hör mal, welch Gesang!“ Wir stehen unter 3 Lindenblütenbäumen und lauschen dem Summen etlicher Bienen. „Wenn ich mit meiner kleinen nichte hier langlaufe, dann kennt sie all die Pflanzen, die man essen kann. Die Kinder in der Schule fragen dann immer woher sie das weiß. Von mir natürlich. Die lernen da ja nix gscheits mehr. Hier das Johanneskraut zum Beispiel, das hat meine Mutter in Öl eingelegt und das haben wir dann überall draufgeschmiert. Das war das beste Heilmittel! Die hat das ja gelernt!“

Das ist wohl das erste Mal, das sie mir davon erzählt. Ich weiß, sie hatte damals den Schrebergarten, wo ich den Sauerampfer in mich hineingeschlungen habe, bis ich zur noch pinkeln musste und ach, die leckersten Stachelnbeeren.
„Hast du damals eigentlich gedüngt?“
„Ach quatsch, da hätt ichs ja gleich kaufen können. Du musst Eierschalen in Wasser einlegen, 8 Tage warten, aber draußen sonst stinkts! Da schießen dir die Sträucher in die Höhe!“

Wir gehen durch den Park, der mir plötzlich wunderschön vorkommt. Ja klar, glattgestriegelt und feinrasiert, aber voller Geheimnisse und Überraschungen. Wie dieser Riesen-Pilz. „Den müssen wir zur Apotheke bringen und schaun, ob der giftig ist. Mei ist der schön!“ Sie bricht ein Stück ab und er läuft an der Stelle blau an. Ich drücke mit dem Finger auf seinen braunen Hut und auch dort bekommt er einen dunklen Fleck. Wow! Seine untere Schicht ist wie ein Komplex von kleinen gelben Gummiröhrchen, ein richtiger Schwamm. Darüber eine feste, Schaumstoffartige Masse. Wir entdecken kleine Wurmlöcher und geben den Pilz dem Boden zurück und schlendern weiter vor uns hin, überall ein Pflänzen, und dazu eine Geschichte. Als ich den Kirschbaum vor uns sehe, mit dunklen großen Früchten kann ich nicht anders, und kletter rauf. „Ich bin fei ned Schuid, wennst runter fällst! Sitzt da oben wia a Bua! Wenn ich da jetzt a Kamera hätt!“

Ich habe lange nicht so einen schönen Tag mit meiner Oma verbracht. Mein Blick auf die Welt ist noch der einer Reisenden, für die jeder Ort eine Entdeckung ist und jeder Mensch eine Brille mit Geschichte. Ich blicke erneut auf die Pflanzen am Wegrand, an denen ich schon tausende Male vorbeigegangen bin. Ein paar erkenne ich von früher, ein paar hab ich in in Israel kennengelernt, ein paar sind mir neu. Mein Zuhause wird zu einem Ort voller Überraschungen.

Ich gehe glücklich zurück

Spulen. Rückwärts. Ich drehe an der Kurbel bis es klickt, noch ein bisschen und ich weiß, der Film ist aufgerollt. All die Bilder aufgeräumt, als dunkle Erinnerungen aufgewickelt, bis ich sie ans Tageslicht bringe. Bis ich sie erzähle, mit meinen Freunden, mit meiner Familie teile. Bis Lieder mich zurückversetzen in diese sonderbare Zeit. Voll von Reichtum und Dankbarkeit. Ich bedanke mich, denn ich will weiter gehen, diesen Weg von Wärme, Verspieltheit, Liebe, Annahme, Mut, Neugiere, Teilenhabe und Wetschätzung. Ich habe mir den roten Teppich ausgelegt, bin bereit mein Schloss zu betreten und Königin zu sein. Die Königin, zu der ich geboren wurde, die ich schon immer war. Die Wiese vor meinem Wagen, mein Schlosspark.

Bild Nr. 23, Aviva. Noch vor zwei Tagen hatte ich auf jener Wiese eine rote Decke ausgebreitet. Ich sah Aviva mit Zuf auf ihren Rädern mit einer anderen Mutter und Kindern um die Ecke biegen und lud sie alle in mein Schloss ein. Ich schnitt ihnen Melone auf, und verteilte die dreieckigen Stücke solange, bis alles weg war. Ich hatte mehr gekauft, denn alle lieben Wassermelone. Die Kinder schnappten sich den Fußball und rannten mit ihm davon. Ein kurzer Moment, nur mit Aviva zu sein. Einer der Menschen, die mich am meisten beeindruckt haben hier. Doch auch einer, den ich wohl nie erreichen werde, so sehr wir uns auch anziehen, so nah wir uns auch fühlen. Auch sie ist Königin. Weiß sie das?

Bild Nr. 30, Yarin. Mit Banjo in der Hand, das Stück spielend, das wir jedes Mal spielen, wenn wir uns sehen. Der Mensch, der immer wieder erinnert, wie sehr er es genossen hat, mich Granatapfel essen zu sehen. Mit dem ich auf den Klippen vor dem arabischen Friedhof scheinbar ein Date hatte. Der mir gesagt hatte, aus mir würde noch eine gute Musikern werden.

Ich denke an das Bild Nr. 27, relativ dunkel wird es wohl sein, denn es war nachts und nur die Scheinwerfer der Straßen gaben Licht. 3 Menschen darauf zu sehen, wie sie vor meinem Bauwagen dem ausgebauten, bunt bemaltem Laster, auf dem Gehsteig sitzen und Tee trinken. Shemer auf einem kleinen Hocker, Roni mit Gitarre in der Hand auf dem Boden, daneben Udi, der ein ein Zündholz anzündet. Ich erinnere diesen Moment als Stunden von Verbundenheit und Begegnung. Sie alle sind mir heilig, ganz auf ihre eigene Art. Alles drei Menschen, die einen unglaublich wichtigen Teil meiner Reise ausgemacht haben. Und plötzlich treffen sie aufeinander und dürfen sich kennenlernen.
Ich lehne mich zurück und versuche loszulassen. Von der Verantwortung, sie anzufreunden. Von der Angst, sie könnten die Schönheit des anderen nicht erkennen. Ich übergebe es ihnen, und sie gestalten einen ganz besonderen Moment. Ich will schlage ihnen vor, meine Fotos vorzuführen und während wir durchblättern fange ich an zu erzählen. Mit jedem Foto tauche ich tiefer ein in das Reichtum meiner Erfahrungen. „Solche Geschichten erzählst du auch in deinem Blog?“ fragt mich Roni und schaut mich mit großen Augen an. „Weißt du ich habe noch nie so mit einer Frau gespielt. Als wir uns kennenlernten hast du mich einfach angestarrt mit diesem Hexengrinsen, grausam. Du hast dich nicht gescherrt, es einfach gemacht. Ich habe das Gefühl, mit dir fliegen zu können.“

In mir kommt das Bild Nr. 25 hoch. Hava blickt direkt in die Kamera, ihre Sommersprossen im Abendlicht, ihre Locken wie ein Blumenkranz um ihr Gesicht. Die riesigen Wellen, die salzigen Körper. Die Quallen am Strand und die Steine in ihrem Badeanzug. Sie fragt mich tausend Fragen und schenkt mir tausend Küsse. “Ich habe schon oft mit Frauen Sex gehabt, aber noch nie Liebe gemacht.” erzählt sie mir, als wir auf einem Vorsprung sitzen und den Salat auf meiner roten Decke essen. Ich grinse in mich hinein. Ich mag sie.

Den FIlm spule ich vor und zurück und lasse mich von dem warmen Gefühl umhüllen. Ich werde vermissen. All diese offenen, neugierigen, herzlichen, sonderbaren Menschen. Freudig vermissen. Denn ich habe dieses Jahr abgeschlossen. Mir Zeit genommen für den Abschied. Meine letzten Dinge verteilt, Briefe geschrieben, Umarmungen geteilt, Liebe gezeigt. Ich gehe glücklich zurück. Glücklich, weil es weiter geht und ich weiß, wo ich das nächste Jahr sein werde. An einem Ort, den ich kenne. In einem Haus mit Garten und einem Menschen, mit dem ich verstehen will, wie wir uns lieben wollen. Ich gehe glücklich zurück, weil ich weiß, dass ich hier ein Zuhause habe. Weil ich die Menschen in meinem Herzen trage und sie mich. Weil ich mich zu einem Menschen verändert habe, den ich lieben kann.

Ich schlage das Buch auf, dass mir Shiran und Frampches am Flughafen in die Hand gesteckt haben. Ein Königspaar auf dem Weg nach Israel. Ich lese die ersten Zeilen und es ist, als würden die beiden mir erzählen. Als dürfte mich das Buch begleiten, wenn sie nicht da sind. Ich lese weiter und tauche in ihre Welt ein. Erinnerungen fliegen an mir vorbei, bunte Farben auf ihren Köpfen, ihre Umarmungen, ihr liebevoller Blick. Aber vor allem ihre erinnernden Worte, ich solle immer nur das machen, was ich wolle. Ich schlage das Buch zu und schließe die Augen.

Ich gehe glücklich zurück.

Weiße Linien

„Hmklsgnfv“ Ich klimper mit den Augen, versuche sie aufzubekommen. Von draußen ist eine Stimme zu hören. „Ein Moment!“ rufe ich, ziehe mir ein T-shirt über und öffne die Wagentür. Ein Mann mit schwarzem Hut, Krausebart und langer Anzugjacke blickt mir entgegen. „ I am an Artist from California. I like your Truck.” Es ist 8 Uhr morgens und ich bin noch völlig verschlafen. Doch igrnedwie freue ich mich über diesen komischen Moment und ich lade ihn ein, die Wand mit weißer Farbe zu bemalen.

Er setzt sich auf den Boden und beginnt den Stamm eines Baumes anzutonen. Ich kann nicht anders, als diesen Moment mit meiner Kamera festzuhalten. Ein amerikanischer orthodoxer Jude sitzt auf dem Boden vor meinem Bauwagen und malt eine Landschaftsszenerie an die Steinmauer gegenüber. „I grew up in the mountains. I only know how to paint landscapes.” Er tupft dem Baum eine Krone und führt vor. „I cound’t stand the materialism of the States anymore. I’ve moved to Zfat a few months ago. Shouldn’t go back to the States. They don’t like happy people. They think I am crazy” Schon wieder einer aus der Hasidim-Gruppe. Neben den Baum malt er die Köpfe von Blumen. „Could you bring me some water, the paint is a bit thick.” Ich fülle einen Becher, setze mich in den Schatten des Wagens und schaue ihm zu wie er die graue Mauer zum Leben erweckt. Zfat… Die heilige Stadt im Norden, gebaut auf einem Hügel, mit Sandstein-Mauern und blauen Türrahmen. Sie erweckt die Ilusion, hinter ihren Häusern läge das Mediterrane Meer. Gemeinsam mit Jerusalem, Tiberias und Hebron wird sie schon seit Jahrhunderten von Juden belebt.

Der Künstler legt den Pinsel ab und verabschiedet sich mit der selben Selbstverständlichkeit, mit der er mich morgens um 8 geweckt hat. Ich zeige ihm den Weg zum botansichen Garten und stelle mir vor, wie er sich dort abends einen Baum sucht, auf dem er schlafen kann. Was ein schräger Typ. Jetzt bin ich auf jeden Fall wach.

Neue Welt

Mit gespitzten Ohren lausche ich meinem Rhythmus. Er ist langsam, stabil, wiederholt sich. Ich finde ein paar Töne dazu. Lang, warm, simpel. Auch sie wiederholen sich. Nur die Worte sind mir undeutlich. Slavisch angehaucht, doch verstehen tu ich sie nicht. Welche Form von Musik ist das überhaupt? Wer hört sich sowas an? Sind diese paar Töne genug?

Ich habe das Gefühl, meine Klänge rechtfertigen zu müssen. Ich habe das Gefühl, sie bräuchten einen Namen. Nur dann kann ich sie nicht mehr einfach wegschieben. Dann sind sie wirklich da.
Doch bis dahin wanke ich zwischen Schamgefühl und schlechtem Gewissen, folge den Klängen, die Namen haben, so lange bis ich den meinen verliere. Bis ich beklaut werde, mich von der Sonne verbrennen lasse, oder an der Rinde eines Baumes verletze. Dann wache ich auf und werde mir klar, dass ich auf mich achten muss. Es ist wie ein Moment der Legimitation. Endlich darf ich meine Bedürfnisse ernst nehmen. Wieder darin vertrauen, dass ich schon weiß, was gut für mich ist.

Zu Anfang des Auslandsjahres hatte ich einen Bonus. Ich war ein kleines Kind, neugierig auf eine neue, fremde Welt, bewusst über ihr Unwissen, im Reinen mit der Position der Lernenden. Und plötzlich meine ich, die Wissende sein zu müssen. Meine Zeit ist abgelaufen, und alles, was ich noch nicht kennengelernt habe gilt als Scheitern.

Ich erlaube mir nicht mehr, unwissend zu sein. Als hätte ich plötzlich Verantwortung für die ganze Welt um mich herum, als müsste ich etwas zurückgeben. Als wäre die Zeit den Annehmens abgelaufen und jetzt wäre Zahl-Zeit…

Die alte Wunde öffnet sich und wirft Licht auf die Angst, nicht genug zu sein, nicht geliebt zu werden. Bis Raviva auf Pause drückt. Wir treffen uns zu einem Abschluss-Gespräch des Jahres. Sie will sich bedanken für meine Arbeit. Sie erinnert an den Moment des letzten Konzertes, bei dem ich neben dem blinden Pianisten während unserem piazolla-Duo auf die Knie gegangen bin um ihm das Zeichen für ein Ritardando zu geben. Was für ein Zeichen ich damit gesetzt hätte. „Nur du hättest mit ihm spielen können. Du hattest keine Auftrittsschuhe, aber das war dir egal. Warst in Socken auf der Bühne.“

Sie spricht weiter und weiter, sagt mir, wie sehr sie meine Arbeit des abgelaufenen Jahres geschätzt, meine Anwesenheit genossen hätte. Meine Simplizität, Ehrlichkeit, Menschlichkeit. Meine Art, jedem Menschen auf Augenhöhe zu begegnen. Meine Stimme und mein Geigenspiel, meine Ideen und meine Offenheit…

All das scheint mir so selbstverständlich, denn so bin ich halt. Ich vergesse, dass ich genau richtig bin, auch wenn ich nicht meine Hundert Prozent gebe. Dass mein 50 % für andere manchmal völlig ausreicht. Dass ich nicht herausstechen muss um jemand zu sein. Wie viel ich gebe, in dem ich bin.

Es gibt kein Limit im Ich. Ich bin das und das und das und das. Kein Oder, nur Und. Ich bin jetzt, ich war und ich werde sein. Ich bin, weil ich war. Und mich gab es nicht, wenn es mich nicht auch geben wird.

Langsam beruhigen sich meine Gedanken. Die Tage in Tel Aviv, wo ich einfach mein eigenes Ding durchziehe tun mir gut. Wo ich ins Bett gehe, wenn ich müde bin, esse, wenn ich hungrig bin, mit Leuten spreche, wenn ich gesprächig bin. Meine Wäsche wasche, ein Fahrradschloss kaufe, die Stadt dokumentiere. Obst und Gemüse am Markt vor den Chlor-Bächen rette, verdächtige Frauen auf der Straße nach Gay-Parties frage, Freunden in Isolation Essen bringe, schreibe.

Schreibe, über all die Erlebnisse, Eindrücke, Gefühle und Gedanken der vergangenen Wochen. Ihnen einen Platz gebe, sie abwiege, in Relativität setze zu meiner Geschichte. sSchreibe über die Demo gegen rassistische Polizeigewalt, die Geschichte über den Mord auf der Gay-Pride 2015, den Humus mit Yoni, das Schreien der Pfaue, den Kuss mit Merav, die lila Blüten und hohen Sträucher beim Blick aus dem Zelt, das spanische Lied mit Yaara, den roten Himmel an der Grenze zu Libanon, die Wanderung mit Yuval, die rot-grünen, gezwirbelten  Baumstämme, den israelischen Alon mit persischen Eltern im Kofferaum des verstaubten Trucks, die Millionen an Mücken, die Flüsse und glasklaren Teiche, die Feigenbäume und Eukalyptus-Schatten, die Spaziergänge mit Shemer…

Ich bin so dankbar über all das was war. All die Menschen, die mir ihr Anders gezeigt haben und ein Stück Anders in mir ein Zuhause gefunden hat.

Mit jeder neuen Melodie, die ich höre, spüre ich einen versteckten Ton in meinem Körper resonieren. Mit jedem nackten Körper, den ich sehe, traue ich mir, den eigenen etwas genauer anzuschauen. Mit jedem Lebensweg, dem ich begegne, wird mein eigener ein Stückchen realistischer. Mit jedem Anders, das ich kennenlerne, fange ich an ein Stückchen mehr zu leuchten. Doch bevor nicht jemand diese Punkte berührt und ihnen einen Namen gibt, sind sie Schatten. Sie verfolgen mich, tauchen immer wieder auf, machen mir Angst. Ich gehe weiter, suche nach Legitimation, Resonanz, Wiedererkennung, um diesen Schatten Form und Farbe zu geben. Aber das reicht mir nicht. Ich will darauf warten, bis mir jemand sagt, ich wäre nicht allein damit auf dieser Welt. Dass ich einer Ilusion nachrenne, irgendeinem Bild von Realität, das wir uns als Gesellschaft gemeinsam kreiert haben. Ich will der Welt ehrlich begegnen. Meine Schatten anleuchten, abtasten,  ansprechen, aushorchen, annehmen. Den ungehörten, undeutlichen Stimmen in mir Ausdruck schenken, ihnen Worte schenken, sie legitimieren, strahlen lassen. Dem Menschen, der ich heute bin, zu glauben. Meinen Ausdruck von Leben zu einer Geschichte werden lassen.

In der Musik #3

Mit Mahmad gehen wir durch die Straßen der Altstadt Jerusalems. An einem Vorplatz einer Kirche setzen wir uns auf die Stufen und packen die Instrumente aus. Ein Mann setzt sich mit einem Stuhl schräg hinter uns. Frauen mit Kopftüchern und  langen Kleidern laufen vorbei, Arbeiter, Kinder… Sie filmen und machen Selfies. Als Mahmad ein palästinensiches Lied A Capella singt, bleiben plötzlich alle stehen. Für einen Moment wird ruhig auf dem Platz, ein paar Sekunden ist alle Aufmerksamkeit nur auf ihm. Die Oud kommt dazu und alles geht seinen gewonten Gang.

Eine Digeridoo-Verkäuferin hört uns und setzt sich dazu. Sie erzählt uns von DEM Musikladen in der Altstadt. Wir folgen ihr zu ihrem Händler und während ich mir die Ouds durchschaue, fangen die anderen an, in der engen Gasse persische, türkische und arabsiche Lieder zu spielen. Der Verkäufer neben an singt mit und filmt sie.

Ich blicke die Oud an und schaue ins Leere. Wie eine Neubauwohnung wirkt sie kahl und ohne Geschichte. Schöne Architektur, frisch gestrichene Wände und wohlgeformte Rahmen. Aber ohne Möbel. Will ich aus dem Koffer leben, bis endlich der Schrank ankommt? Will ich diejenige sein, die die Teppiche auslegt, Bilder aufhängt, Pflanzen bringt, der Wohnung Farbe schenkt?
Was passiert, wenn ich die Oud kennenlerne, warmspiele? Kann ich ihr den Klang entlocken, den ich mir wünsche?

Nach einer Stunde hin und her entscheide ich mich die Oud zu kaufen. Natürlich habe ich nicht genug Geld dabei und meine digitalen Wege sind versperrt. Also verlassen wir den Laden ohne Oud und ich folge den anderen mit schlechtem Gewissen.

Roni läuft neben mir. „Ich find es gut, dass du nicht einfach kaufst.“

Wir kommen an einem Geldautomaten vorbei. Die anderen ziehen weiter, Roni lächelt mich an und stellt sich wartend, mit der Gitarre im Arm hin. Während ich Geld abhebe spüre ich ihre Abwesenheit, ich drehe mich um und sehe wie sie aus einem versteckten Winkel in meine Richtung blickt, mich annickt und irgendwo hineingeht. Ich beende meine Transaktion und gehe zum Nebenhaus. Durch die Glastüre sehe ich Roni mit zwei Damen sprechen. Eine von ihnen kommt auf mich zu und öffnet mir. Ich trete in eine Galerie, mein Blick direkt auf den roten Baum gerichtet. Hinter ihm ein türkiesener Hintergrund, der den Weg aus dem Bild hinaus antont. Echt fühlt es sich an. Als wären die extremen Farben, die verschwommenen, unfertigen Formgebungen das Abbild einer Landschaftsszenerie der natürlichsten Form. Meine Zweifel verwehen, meine Fragen lösen sich auf. Ich bin plötzlich ganz klar.

Es gibt nur einen Ausstellungsraum. Er ist gefüllt von dem Werk einer Künstlerin, die vor ihrer Immigration ihre Vorstellung von dem Land aufgemalt hat. Ich lächele. Den ganzen Tag über habe ich das Gefühl gehabt, irgendeiner Vorstellung in meinem Kopf hinterherzulaufen, habe mich wie das 13-jährige Mädchen gefühlt, das in Amsterdam von einem Touristenshop zum nächsten läuft um genau den richtigen Pulli zu finden und am Ende müde und frustriert, ohne Pulli, nach Hause geht. Oud kaufen, hin oder her, erscheint mir plötzlich völlig unwichtig. All die Mühen, etwas zu kreieren, das noch nicht ist, gebe ich auf. Irgendwann werde ich der Oud begegnen, die mich begleiten soll.
„Danke, dass du mit mir gewartet hast, Roni!“
– „Ich wollte einfach mit dir sein.“

Wir treffen die anderen und suchen uns einen Platz zum spielen. Er sitzt uns gegenüber, etwa auf 5 Metern Abstand, auf einer Steinbank. Er trägt ein weißes Hemd, Anzughose und eine dunkle Kipa auf dem Kopf. Sein Name ist Abraham, so wie Shelmas Vater. Auch er ist Teil der Breslov-Hasidim-Gruppe.

Vor ihm hat er eine Matte ausgebreitet, mit Bausteinen darauf und anderen Spielsachen. Sein Sohn kommt auf uns zu und wirft eine Münze in den Gitarrenkoffer. Ich erinnere mich an den Moment gestern, wie Abraham, Moshe ganz fest in den Armen hielt und mit geschlossenen Augen dem türkischen Sufi-Lied „Adimiz“ wiegend lauschte. Etwas ist besonders an ihm. Sein warmer dankbarer Blick, seine Aufmerksamkeit für die Musik. So wie Shelma hat auch er das orthodoxe Leben wohl mal in Frage gestellt. Er hat sich wohl wieder für ein religiöses Leben entschieden und ihm in die Augen zu schauen ist etwas ganz besonderes für mich. Normalerweise gucken die Männer mit Schläfenlöckchen und Anzug zu Boden, wenn sie an mir vorbei gehen. Seine Offenheit für unsere Begegnung lässt mein Herz weich werden. Ich höre auf die Menschen zu zählen, die bei uns stehen bleiben. Ich trenne meinen Selbstwert von dem Klang der fallenden Münzen und denke an die Worte von Roni. Wir sind hier, um mit den Menschen einen Moment zu teilen. Wir wollen ihnen ein Geschenk geben, etwas, dass sie sonst vielleicht nicht bekommen. Inspiration, Liebe, Mut, Frohsinn, Berührung…

Ich blicke Abraham in die Augen und will für ihn spielen. Genau jetzt ist der Moment für unser neues Lied. Ich packe die Tambura und schon die ersten Töne fühlen sich genau richtig an. Ich ermutige Shelma, den von ihr geschriebenen Text zu singen. Roni und der Daf-Spieler geben uns Harmonie und Rhythmus und gemeinsam tauchen wir ein. Die Passanten lassen sich verzaubern und sind für einen Moment ganz bei uns. Ich denke an meine Mama. Ich stehe auf, beginne zu unserer Musik zu tanzen und spiele weiter, fiddle und singe, tanze und lache. All die Schwere der letzten Tage fällt von mir ab.

Abraham klatscht und kommt auf uns zu. Er versucht sich mit Jiddisch, doch sieht meine fragenden Blicke. Während er seine Anzughose über seine andere Hose zieht erzählt er mir von den Gedichten, die er für Moshe schreibt. Er wünscht sich, sie würden Lieder werden.

In der Musik #2

Ich bin einfach gegangen. Immer wieder auf’s Neue habe ich versucht, gegen den Lärm der Straße anzukämpfen, Kreativität aus mir heraus zu saugen, die Menschen zu amüsieren, doch es ist mir einfach nicht geglückt. Ich war leer.

In dem Moment, in dem ich aus dem Kleinbus aussteige und die Straßen meines Viertels betrete, fällt mir ein Stein vom Herzen. Die Straße ist beinah leer, es ist ruhig und das Sonnenlicht scheint auf die hellen Häuser. Ich muss nichts mehr. Ich darf einfach nur sein.

Abends kommen die Mädls heim. Sie kochen sich etwas und setzen sich auf den Gehsteig vor der Tür. Aus dem Wagenfenster gelehnt, erzähle ich, was in mir vorgeht. Ich glaube, ich habe zum ersten Mal eine Gruppe gefunden, in der ich mich so geborgen fühle, dass ich weiß, dass meine größten Zweifel uns nicht trennen werden. Ich habe nicht das Gefühl für meine Wertschätzung kämpfen zu müssen. Ich weiß, dass meine Energie wiederkommen wird. Dass ich wieder bereit sein werde zu spielen, verrückt zu sein, auszurasten und loszupreschen. Zu scheinen, zu strahlen und zu inspirieren. Doch gerade will ich einfach nur sein. Die lauwarme Nacht auf mich wirken lassen, mich von ihrer Ruhe tragen lassen.

Ich nehme den Eimer Farbe, den ich auf der Straße gefunden habe, tauche den Pinsel ein und fange an, die Wand des Trainingsplatzes gegenüber zu bemalen. Die Formen sind lose, ohne Ziel. Pinselstrich für Pinselstrich versuche ich meine Urteile gegenüber mir selbst abzulegen, mich zu beruhigen, mir Halt zu geben. Formen zu finden, die mir gut tun. Mich mit den Kreisen und Rundungen anzufreunden, die vor mir entstehen.

Shemer kommt mit Layla vorbei, seiner neuen Mitbewohnerin. Ich springe auf und umarme ihn ganz lang und fest. „Nein, nein, du bist doch voll Corona!“ lacht er halb ernst, doch ich lasse ihn nicht los. Ich stelle die Mädls vor und erzähle von unserem gemeinsamen Musikmachen.

Plötzlich bekomme ich Lust zu singen. Ich renne in den Bus und hole meine Geige. Meine Hand zittert, während der Bogen über die Saiten streicht. Ich will der tollen Sängerin Layla neben mir imponieren, sicher gehen, nichts zu vergessen von unserem Arrangement.

Als wir die Instrumente weglegen und zu dem Akapella-Teil übergehen, sind wir alle komplett da. Mit geschlossenen Augen schenken wir alle Aufmerksamkeit den Harmonien, lassen uns von ihnen tragen, lassen sie leuchten. Fast flüsternd lassen wir das Lied ausklingen, öffnen unsere Augen und strahlen uns an. Ich atme tief durch und bin einfach nur dankbar.

In der Musik #1

Ihre Stimme klingt unruhig am Telefon. Sie antwortet mir stur auf Englisch, so wie ich stur nur auf Hebräisch mit ihr spreche. Ich gebe das Telefon an seine Besitzerin zurück und schaue mich am Bahnhof um. Für 18:00 haben wir uns verabredet. Ich warte. Plötzlich spricht jemand mit mir. Ich bin kurz durcheinander, dann macht es klick. Die Kameraperspektive unseres Zoom-Gesprächs verworfen, überrascht mich ihr Anblick. Klein kommt sie mir vor. Auf der vorderen Hälfte ihres Kopfes hat trägt sie kurzgschorenes Haar, den Rest hat sie über die linke Schulter gelegt. Dazu eine weiße Bluse mit burlgarischem traditionellen Muster und eine gefärbte Chordhose mit zwei riesen Löchern an den Knien. Auf dem Rücken ein Rucksack und auf der Schulter einen Intrumentenkoffer.

Wir gehen zur Bushaltestelle und ich bin genervt davon, dass sie immernoch auf Englisch mit mir redet. Als ich sie darauf anspreche, erklärt sie mir, sie seie das gewöhnt. Zwei mal in der Woche verteilt sie das gerettete Gemüse, das vom Markt aussortiert wird in Kisten um diese an Familien zu geben, die in dieser schwierigen Phase kein Geld für Essen haben. Dort redet sie vor allem Englisch. Ich solle es bitte nicht persönlich nehmen.

Wir steigen in den Bus in Richtung Kfar Hasidim und sie beginnt erneut auf Englisch. „I know this Town. I grew up there, you now? Few of the happiest years in my childhood. I had the room with the view to the mountains. But then we left to Jerusalem.”.
“Lama?”
“I come from an ultraorthodox family, we are Breslov-Hasidim. We used to sing a lot, music was a big part of my life. My parents moved here when I was three, but as my mom was from a different branch, the group here didn’t accept her. She never really felt really at home in this town, so after three years we moved back to Jerusalem” Ich beginne sie ein Stückchen mehr zu verstehen. Ihre unruhigen Bewegungen, die ausweichenden Blicke.

Wir kommen in dem kleinen Dorf an, steigen aus dem Bus und schauen auf einen leeren Spielplatz. Da kommt Roni, Barfus, mit flatterndem Rock und einem Grinsen auf dem Gesicht auf uns zu. Sie umarmt uns freudig und wir machen uns auf den Weg zu dem unbelebten Event-Zelt ihres Vaters mit dem Kunstrasen, den bunten Scheinwerfern und der getrockneten Hundekacke.

Abends singen wir bulgarsiche Lieder. Es fühlt sich anders an mit Shelma, irgendwie mühsam. Sie wirkt unaufmerksam, und mir fehlt das „Zusammen“ in der Musik. Ich denke an die verrückte Situation, in der wir uns befinden. Vor ein paar Wochen hat Roni uns einfach jede Einzelne gefragt, ob wir eine Band gründen wollen. 4 Frauen, die Musik lieben. Und jetzt sind wir hier.

Ich denke an unser erstes Treffen vor einer Woche, nur Roni Shahar und ich. „Ihr scheint mir wie drei verlorengegangene Schwestern“, meinte Ronis Mutter als sie uns drei in der Küche sah, wie wir versuchten, den misslückten Pfannkuchenteig zu verschiedensten anderen Teigvarianten umzuformen, um ihn ja nicht wegzuschütten. Im Laufe der zwei Tage im Dorf Hasidim sind wir uns tatsächlich so nah gekommen in der Musik, als wäre es das Natürlichste und Übernatürlichste zur gleichen Zeit. Wir sind uns gegenet auf den gemeinsamen Wellen an Energie, den einfachen Rhythmen, den weichen Melodien und Mantramäßigen Verläufen. Ich habe unglaublich genossen von dem gegenseitigen Zuhören und dem Genuss an Stille. Und jetzt ist es irgendwie anders. Härter, schneller, angespannt.

Am nächsten Morgen kommt ein weißes Auto vorgefahren. Aus dem Fenster grinst und Shahar zu. Wir anderen drei sitzen in Unterhosen auf der Holzbühne des Zeltes und klimpern vor uns hin. Ich springe auf und falle Shahar um den Hals. Eine Vorfreude kommt in mir auf, über ihre Kreativität, ihre weiche Art und ihre gespitzten Ohren. Sie setzt sich zu uns und auch bald ist ihr klar, dass dieses Mal etwas anders ist. Die Magie unseres leztzten Treffens scheint aufgelöst. Unsere Dynamik gebrochen.

Nach dem Mittagessen und einem drückenden Schweigen vor dem viel zu lauten riesigen Party-Ventilator überrede ich die Gruppe, ans Wasser zu fahren. Mit Sonnencreme auf der Nase laufen wir durch den kleinen Wald, den Bach entlang. Der Lauf der Wege, die Farben der Blätter, die Höhen der Bäume; alles kommt mir seltsam bekannt vor. Ich fühle mich plötzlich ganz nah der Landschaft, als kenne ich den Ort. Es waren wohl die Juden aus Europa, die diesen Ort bepflanzt haben. Der Ort ist Beispielhaft für die verqueerte Vegetation des Landes. Kaum eine der Pflanzen, die für mich zu einem Wiedererkennungszeichen des Landes geworden sind, hat es hier ursprünglich gegeben. Nicht der Eukaliptus, der Fikus, die Nadelbäume, der Bambus, die Bougainvillea, usw. In der Tanach wird von 7 Spezien geredet, die natürlicherweise in dieser Region wachsen: Weizen, Gerste, Weinstöcke, Dattel-Palmen, sowie Feigen-, Granatäpfel- und Olivenbäume. Wo wir gerade sind fühlt sich an wie ein Ausflug in ein anderes Land.

Ein Stückchen abseits von den Grillparties finden wir ein paar Steine im Schatten. Ich lege meine Sachen ab, ziehe mich aus und steige in das kühle Wasser. Der Bach ist flach und hat etwas ruhiges, idyllisches. Pflanzen hängen von allen Richtungen ins Wasser, die Sonne scheint durchs Blätterdach und mustert das klare Wasser. Shahar taucht neben mir unter, schöpft sich das kühle Wasser über die Stirn. Die Sonne lässte die Tropfen glänzen auf ihrem Haar glänzen und ihr Lächeln ist genussvoll und warm. Sie sieht, dass ich immernoch nicht untergetaucht bin und beginnt mich mit Wasser anzuspritzen. Ich genieße diese kindliche mädchenhafte Verspieltheit. Wie damals im Norden merke ich, wie mein Kopf durch das kalte Wasser wieder klar wird und ich nach den trägen Mittagsstunden erwache. Ich gehe in die Hocke, das Wasser bis zum Bauchnabel, und fange an zu singen. Shahar folgt mir, reagiert auf meine Melodien, begleitet sie. Roni taucht ein und legt ihre helle Stimme über unsere gregoriansichen Gesänge. Gemeinsam tauchen wir ein, in eine andere Welt. Unsere Töne verweben, sind neugierig, herausfordernd, weich und kristallen. Wir werden zu Nymphen in einer Höhle vor Hunderten von Jahren. Die Magie unseres letzten Treffens kommt zurück. Shelma sitzt neben uns, doch sie klingt abseits. Ihre Melodien tief und rauchig, irgendwie fremd.

Wir sinken in die Welt des Spiels. Wir wechseln von einer Rolle zu Nächsten, schneiden Grimassen und testen die Grenzen unserer Stimmen. Wir sind Affen und Nymphen, Monster und Ritter, Ratten und Tänzer zur gleichen Zeit. Und Shelma ist irgendwie dabei. Greift unsere Ideen auf und wiederholt sie schüchtern.

Mit knurrenden Mägen und müde von den imaginen Reisen fahren wir heim.

Am nächsten Tag fliehen wir noch vor dem Mittagstief aus dem heißen Zelt. Shahar sitzt schweigend am Steuer. Ich spüre, dass sie sich nicht wohl fühlt. Ich suche nach der passenden Musik und lege Shantel auf. Die undefinierte Stimmung bleibt in der Luft hängen. Die Musik fühlt sich an wie ein Bauer, der seinen sturen Esel versucht anzutreiben.

Auf dem Weg kommen wir den Feldern von Ronis Vater vorbei und klauben die Reste der Saison auf. Barfus stapfe ich durch den Schlamm und suche nach den Pomelos, die noch nicht von den Tieren gesquated wurden. Zurück an der Radiostation des Autos spüre ich in mich hinein und merke wonach ich suche. Ich lege Alama von Fatoumata Diawara auf und ihre Musik füllt das Auto mit einer weichen, ruhigen Stimmung.

Am selben Platz angekommen kühlen wir uns wieder ab, doch die Gruppe ist gespalten. Roni und Shelma folgen dem Bach, bis sie nicht mehr zu sehen und zu hören sind. Ich finde keine Ruhe, kann den Zauber des Ortes nicht aufnehmen. Leise klettere ich um Shahar herum, die auf den Steinen liegt, mit Blick in den Himmel gerichtet. „Darf ich etwas mit dir teilen?“ Und dann erzählt sie mir von ihren Zweifeln an der Gruppe und an Shelma.

Als die beiden zurückkommen schlage ich vor, eben zusammen zu kommen und uns ausztauschen, wo wir uns gerade befinden, wie wir uns fühlen. Ich spüre, wie ich für diesen Raum kämpfen muss. Shelma will endlich Musik machen und nicht wieder nur reden. Das würden wir doch eh die ganze Zeit machen. Roni un ich bestehen darauf und endlich Shahar erzählt von ihren Zweifeln. Doch was sie mit mir geteilt hat, bleibt ein Geheimnis.

Ich merke, wie unsicher und gebrechlich die Freundschaft der Gruppe noch ist. Die pure Ehrlichkeit scheint noch zu brutal.

Zuhause?

Ich wache auf von der Hitze. Es ist 9 Uhr morgens und der Bauwagen steht mitten in der Sonne in Tel Aviv. Ich blicke mich um und genieße die neue Ansicht. Die wenigen Klamotten einsortiert, Kulturebeutel ausgeräumt und der Inhalt auf dem kleinen Regal neben der Kompost-Toilette ausgebreitet, die paar Tassen und Schüsseln von Tadita aus Beit Hilel zu dem Geschirr platziert. Ich mache ein Foto für Ayca. Mir wird heiß, also Zeug packen und raus hier. Die Tür geht zu einem abgesperrten Bolzplatz auf. Dahinter ist ein kleiner Park. Dunkelhäutige Menschen trainieren an den Turngeräten oder sitzen auf den Wiesen. Ab und zu kommt jemand mit meiner Hautfarbe vorbei, mit einem Hund an der Leine. Ich lasse die Arme um mich schwengen, Balangsiere auf einem Bein, dehne meine Hüften und rolle mich Wirbel für Wirbel nach oben. Nach ca. 20 Minuten fühle ich mich bereit für den Tag. Ich springe auf mein Fahrrad und fahre in Richtung Markt. Die Straßen sind belebt wie eh und je, doch der Markt strahlt Gemütlichkeit aus. Wo ich mich sonst an den Touristen vorbei drängeln und deutschen Gesprächen ungewollt lauschen muss, ist jetzt freie Bahn. Ich hole mir eine Wassermelone und Loquat, kaufe Basics für meine neue Küche (Tahini, Honig, Hafermilch, Roggenmehl, Gemüse für einen Salat) und mache mich auf den Weg zum Strand. Ich packe mein Zeug unter einen Sonnenschirm und versuche die Melone zu zerbrechen. Sie gleitet mir aus den Händen und die Schale landet im Sand. Die Leute um mich herum scheinen nichts mitzubekommen, also beschließe ich, meine bekannten Methoden über Bord zu werfen und beiße einfach rein. Sie ist zwar nur ein Viertel ihrer vollen Pracht, doch umso mehr ich von der Kante abgegessen habe, umso tiefer muss ich mit meinem Gesicht in das rote Fleisch eintauchen, um den richtigen Winkel zum abbeißen zu finden. Gegen Ende ist mein gesamtes Gesicht voll von rotem Saft. Ich fühl mich tierisch. Etwas unbehaglich und mit gesenktem Kopf gehe ich zum Meer, tauche ein und spüle mein Gesicht mit dem kühlen Wasser ab.

Ganz nah am Strand besuche ich den Menschen, der hoffentlich meine Kameras wieder in Ordnung bringt. Ein paar Blocks weiter gebe ich die Filme, hole mir eine Schaumrolle für meine Faszien, Tropfen für meinen Bauch und düse nach Hause. Mit jeder erledigten Sache, fühle ich mich ein Stück weit geordneter, meine Gesichtszüge werden weich und ich habe das Gefühl, wieder Boden unter den Füßen zu bekommen. Auf dem Weg klatschen mir Fliegen ins Gesicht und in die Augen. Sie versammeln sich auf meinen Beinen und fangen an zu jucken. Als ich nach Hause komme, sind sie verschwunden. Mit Laptop und Notizbuch lege ich mich auf die Wiese und lese für meine Bachelorarbeit. Was bedeutet es seine Identität zu finden, wenn man von mehreren Kulturen umgeben ist? Ich kann nicht anders, als den Text mit meiner Situation zu vergleichen. Nach ein paar Seiten werde ich müde und meinen Augen fangen an zu brennen. Ich lege mich hin, den Laptop unter meinen Beinen und döse weg.

Jemand redet mit mir. Er meint ich solle aufpassen, dass mich keiner beklaut. Ich taste nach meinen Laptop und atme tief durch. Alles da. Ich danke ihm. Er beginnt ein Gespräch, doch ich bin zu müde um darauf einzugehen. Ich drehe mich weg und beschäftige mich mit mir selber. Nach ein paar Minuten sitzt er immer noch da. Sein Hebräisch ist brüchig, er nuschelt und verschluckt die Hälfte der Wörter. Das Gespräch über die unerträgliche Sonne ist bald ausgeschöpft und da ich ihn will nicht die typischste aller Fragen stellen will, weiß ich nicht, was ich sagen soll. Nach einer kurzen Stille mache ich es also trotzdem und erfahre, dass er ein Flüchtling aus Erithrea ist. Er arbeitet auf dem Bau, von daher die Wunde an seiner Oberlippe und an der Schläfe. Seit 14 Jahren lebt er hier. Sein Visa muss er jeden Monat erneuern.  „Es gibt Geld“ meint er, „doch keine Möglichkeit, Einwohner zu werden“. Ich korrigiere ihn bei dem Wort „תעודת הזהות  – Personalausweis“ und merke wie er mir zustimmt, aber nichts an seiner Sprache verändert. Also spreche ich ihn drauf an und bitte ihn, mir genau zuzuhören. Er wiederholt mit Sorgfalt, was ich sage. Seine Augen beginnen zu leuchten. Er folgt meinen Bewegungen zu den Vokabeln und lässt sich vollkommen darauf ein. Er scheint so dankbar, dass es mich zum denken bringt. Wie oft wird er wohl wirklich die Chance gehabt haben, mit so einer Sorgfalt sich der Sprache zu widmen? Von jemandem mit aller Aufmerksamkeit zu lernen, anstatt aufzuschnappen, was auf der Straße oder im Amt für Asylanträge gesprochen wird.

Natürlich bekommt er keinen Sprachkurs oder sonstige Hilfe angeboten, sich zu integrieren. Alles baut darauf auf, das er das Land irgendwann wieder verlässt und hier nur eben Zwischenhalt macht. Als Flüchtling gibt man hier 20 Prozent seines Gehaltes ab, sodass, wenn man zurück in seine Heimat will, eine Reserve angesparrt hat.

Ich frage ihn nach seiner Nummer und biete ihn an, uns morgen zu zum Hebräisch lernen zu treffen. In Gedanken singen wir schon hebräische Lieder und ich bringe ihm all meine brillianten Lern-Techniken bei. Doch schon bei unserer ersten Stunde wächst meine Frustration mit jedem fragenden Blick. Meine Lernwege scheinen ihm völlig fremd. Er wirkt auf mich wie der 14-jährige Junge, der damals sein Land verlassen hat und vor völliger Fremde steht. Ich denke an meine Bachelorarbeit und gebe mir einen Ruck. Na los, sei ein Teil seines Zuhauses!

Nächste Station: Haifa

„Doch, du hast ein Zuhause!“ sagen mir die Leute um mich herum und zeigen auf ihr Haus.
Seit 3 Wochen bin ich unterwegs, von einem Ort zum nächsten. Jede Nacht irgendwo anders. Heute also auf einem Balkon in Haifa, auf einer der typischen 10cm dicken Matratzen, die hier alle zuhause haben für ihre Gäste. Ich muss zugeben, es hätte auch Platz drinnen gegeben, aber ich liebe es, draußen zu sein. Wir sind im 6. Stock und ich kann bis zum Meer schauen von hier aus. Dicker Nebel liegt morgens über dem Hafen sodass ich ihn eher erahne als ihn wirklich zu sehen, doch der Blick in die Weite tut gut.

Gegen Mittags gehe ich los, die Stadt erkunden. Im Bus höre ich die Menschen Russisch sprechen und wir fahren an einem Likör-Laden namens Putin vorbei. Das Blau-weiß der Fahnen flattert im Wind. Die Reste der Feieirlichkeiten der Israelischen Unabhänigkeit, oder wie die Palästinenser sagen: Al Nakba (die Katastrophe). Es gilt als der Lichtpunkt der jüdischen Kultur, der ausnahmsweise mal nicht an ihr Leiden erinnert. Seit Pesach (Die Befreiung der jüdischen Sklavenherrschaft in Ägypten) ist jeder Feiertag des letzten Monats ein Gedenktag. Mehr als ein Mal bin ich in den letzten Wochen von der Sirene überrascht worden, die alle zum Stehen bringt, egal wo sie gerade sind. Eine Minute lang Gedenken sie den Opfern des Holocaust und den gefallenen Soldaten während den Kriegen.

Von dem Viertel der roten Dächer und symmetrischen Gärten, auch Deutsche Kolonie genannt, gehe ich immer weiter bergaufwärts, in Richtung Südwesten. Ich mache Halt an einem Maulbeerbaum und esse, bis mir keine Frucht mehr in die Hände fällt, wenn ich sie berühre. Meine Hände sind dunkel gefärbt und ich lege ein buntes Tuch über Kopf und Schultern. „Kommst du aus der Wüste?“ fragte mich gestern der Busfahrer, nach einem Blick auf das Tuch und der grünen Mochila auf meinem Rücken.

Auf einer Wegbank sitzen zwei Frauen. Zwei Zeitungen als Sitz- und Rückenpolster, es scheint mir eine Schutzmaßnahme gegen den Virus. In ihren Händen zwei Handys. Ich meine ein stummes „hey“ von mir zu geben, bin mir aber nicht sicher.

Meine Schritte sind gleichmäßig, zwischendrin bleibe ich stehen und schaue auf die Stadt, die immer tiefer zu sinken scheint. Zu meiner Rechten gehen Brücken weg, die zu den Eingangstüren der Wohnblocks führen. Auf den Seiten der Brücken ragen Bäume heraus, die unteren Stockwerke verschwinden im Laubwald. Die Straße zu meiner Linken ist kaum befahren. Ab und zu kommt ein Auto vorbei und für einen kurzen Moment frage ich mich, ob ich nach einem Tramp fragen soll. Ich strecke halbherzig meinen Finger raus und schaue den Rücklichtern hinterher, wie sie hinter der Kurve verschwinden. Ich fühle mich gut, alleine zu sein. Einfach unterwegs in die Richtung, die mich wohl irgendwann zu einem Bus bringen wird um dann beim Geigenbauer meine Geige abzuholen.

Ich versinke in Gedanken. Langsam tuckern die Eindrücke der letzten Wochen an mir vorbei. Nach und nach gelingt es mir, Gedanken zu stricken und Dinge miteinander zu verknüpfen. Ich denke an das Telefonat mit Ayca. Diejenige, bei der ich mich nicht verstecken kann und mein Herz sich öffnet. Diejenige, die mich seit 20 Jahren kennt und wir gemeinsam unser Verständnis für Freundschaft kreiert haben. All die Dinge der letzten Wochen, die ich irgendwie einfach so hingenommen habe bekam sie gestern auf einmal, wie ein Resteessen in der Mikrowelle auf den Tisch geklatscht. KEINE Ahnung wo anzufangen und wie weiterzumachen.

Handy kapputt, Pin vergessen, Kontakte weg, Geigensaite gerissen, Steg umgekippt, kein Üben, Makam-Unterricht, Digeridoo, Improvision, Frauenpower, Lederkappe weg, Wilder Senf, Permakultur, Gartenarbeit, Sonnenbrand, Bienenstich, Rückenschmerzen, Beine schwer, Bauch tut weh, Pilz am Zeh, Frau vergessen, Mann im Bett…

Luft holen.

Ich erzähle ihr alles. Von all den Dingen, die mich sonst so mitreißen, doch jetzt irgendwie grau scheinen. Sie berühren mich nicht. Sie sind zu viel, zu zerstreut. Wonach ich mich gerade wirklich sehne, ist ein Haus, an dem ich meinen eigenen Garten erkunde und Samen für Samen der Erde neues Leben schenke. Das Haus auf der Suche nach Panama.

Ich klettere über ein Geländer und setze mich an den Berghang. Umringt von wildem Gewächs knabbere ich an dem Hafer, der zu mir rüber baumelt. Noch vor ein paar Tagen waren die Körner so weiß wie Milch. Jetzt sind sie hellbraun, bissfest und bereit, aus ihrer Hülle genommen zu werden.

Der Verlauf des Jahres. Das Wunder des Wartens.

Ich fühle mich reif. Reif, all der Vorbereitung der letzten Zeit Geruch und Farbe, Platz und Bedeutung zu geben. Ich bin satt. Habe aufgesaugt, was ich finden konnte. Habe genug von all den Beobachtungen der anderen. Von den tausend Geschichten und Bildern der gestapelten Bücher. Ich habe mich sattgesehen und gehört, genug verstanden und widerlegt, hinterfragt und ausgedehnt. Die Kreise meiner Neugierde und Entdeckungslust werden kleiner und kommen dem Eigenen immer näher. Dem Platz, an dem ich meine eigene Welt kreiere. Ein Platz zum ausprobieren, lernen, entwickeln, und weitergeben. Zum Fehler machen und Lösungen finden. Ich will die Tiefe teilen mit den Menschen um mich herum, uns gemeinsam auseinandersetzen. Die Überraschung in dem suchen, was mir so alt bekannt vorkommt. Lieben zu lernen, anstatt mich zu verlieben.

Ich komme zu einer Aussichtsplattform. Die deutsche Kolonie sticht mit ihren roten Dächern aus dem Weiß-Grün der Stadt hervor. Dahinter der Hafen und das Meer. Strahlend blau. Und links neben mir ein Kloster. Zu seiner Seite geht ein kleiner Pfad entlang. Er führt zu einer steinigen offenen Ebene, mit stracheligen Sträuchern. Der Geruch von Thymian steigt mir in die Nase und weckt Erinnerungen an Frankreich. Ich mache mich auf den Weg nach unten, hüpfe über die Lücken zwischen den angelegten Treppen und werde umringt von Wald. Schatten breitet sich über mir aus und kühlt mich ab. Über eine Beton-Brücke gelange ich ans Meer. Ich stecke meine Füße in das salzige Wasser und lasse mich von den Wellen anspritzen, die sich an den Felsen brechen. Die Sonne steht auf 45 Grad und ich denke an meine Mission: Die Geige abholen. Also frage ich eine Gruppe Jugendlicher, wie ich von hier zur nächsten Bank komme. Sie schauen in ihrem Telefon nach und bieten mir an, mich hinzufahren. Ich setze mich auf die Rückbank, zu dem kleinen Boxer, der unruhig schnauft, die Zunge nach oben geklappt. Das Mädchen neben mir nimmt eine Windel und versucht sie, dem Hund anzuziehen. Ich schaue verwirrt zu und frage, warum sie das macht. „Ich will deine Hilfe!“ meint sie, holt mich aus meiner Erstarrung. Ich halte den Hund, während sie ihm die Windel überzieht. Der Rest seinen Schwanzes bekommt Platz durch ein kleines Loch auf der Rückseite der Windel. „Sie hat ihre Tage!“ erklärt mir endlich eine der dreien. Sie heben die Hündin rum, tätscheln sie und lachen. Ich drehe mich weg und schaue aus dem Fenster aufs Meer.

Bei der Bushaltestelle angekommen, an der der Bus nach „Ein Carmel“ abfährt, frage ich jemanden, einen Anruf zu betätigen. Mit Mundschutz und über Lautsprecher rufe ich den Geigenbauer an und erfahre, es sei schon spät, er würde gleich nach Hause fahren. Wir verabreden uns für morgen und ich frage einen Bediensteten, wie ich zurück ins Zentrum komme. „Von welchem Zentrum sprichst du?“ fragt er. „Einfach irgendwohin, zentral in der Stadt.“ „Aber du musst doch ein Ziel haben! Ich kann dir nur weiterhelfen, wenn du mir sagt, wohin.“ – „Ok. In das deutsche Viertel.“

Ich fahre an den roten Dächern vorbei und steige ein paar Stationen danach aus. Das Viertel mit den Häusern aus echtem Stein schmeichelt mir. Die meisten sind leer. Ich lege mich auf eine Terasse eines geschlossenen Hamams und schaue in den Himmel. An der Hauswand ist ein Skateboard als Bank befestigt. Vögel kreisen über mir. Mir wird kühl und ich will mir meinen Schal überlegen. Ich kann ihn nicht finden. Ich werde nervös und stelle ihn mir vor, wie er auf dem Sitz im Bus liegt, auf dem ich ihn wohl vor einer halben Stunde vergessen habe. Ich gehe zur Haltestelle, steige in den nächsten Bus, frage nach einer Servicenummer und bekomme keine Auskunft. Ich steige wieder aus, rufe mit dem Handy eines nett-aussehenden Menschen ein weiteres Mal an. Nichts. Ich werde traurig. Ein leeres traurig. Über mir färbt sich der Himmel rosa. Na los, such dir einen schönen Platz zum lesen, sag ich zu mir selber. Erkunde weiter. Genieße das Abendlicht. Ich streunere von der einen Straßenseite zur anderen. „Los jetzt, nach Hause!“ sagt mir eine Stimme, ganz klar und deutlich und ich mache mich auf den Weg zu dem Balkon, wo mein Rucksack steht.