Mittendrin

Warum ich Hebräisch lerne, wenn ich ja gar nicht vorhabe hier zu bleiben? Wenn ich ja eh wieder gehe..? Warum der Aufwand, die Mühen, die vielen Momente des Unverständnisses? Warum wieder mal in Kinderschuhen stehen und jedes Wort zig Male hören, bis es locker leicht aus meinem eigenen Mund kommt? Gute Frage… Für mich ist es einer der Wege, mich Teil einer neuen Welt zu fühlen. Es bedeutet für mich, Interesse zu zeigen für mein Gegenüber. Ich möchte die Menschen kennenlernen mit ihren Gewohnheiten. So wie ich es liebe das Zuhause von jemandem kennenzulernen und die Bilder an der Wand zu bestaunen, genauso genieße ich es, jemandem zuzuhören in seiner Muttersprache. In ihr klingen so viele Menschen und Erlebnisse, Emotionen und Erinnerungen mit, die auf englisch (meistens ist das nicht die Muttersprache) irgendwie verloren gehen. Ich wünsche mir, dass die Menschen einfach weitermachen in meiner Gegenwart. Ohne den Schalter umzulegen. Ich will ihre Witze verstehen, sie in ihrer Komfort-Zone erleben und ihren Alltag teilen. Ich will ein Teil sein. Ich bin nicht gerne Gast. Ich suche immer nach dem Gefühl, mich zuhause zu fühlen. Auch wenn ich weiß, es ist für beschränkte Zeit. Wenn ich irgendwo bin, dann bin ich dort auch wirklich. Ich stehe mit den anderen am Morgen auf, wir arbeiten, kochen, essen, putzen, reden, schweigen, tanzen, sind müde, warten, schlafen. Ich will nicht nur Zuschauen, sondern meine eigenen Gewohnheiten mitbringen, meine Bedürfnisse erfüllen und meine Aufgaben haben. So wie überall anders auch. Es ist ein bisschen, wie mitzutrinken, wenn manche Menschen auf ein Fest gehen. Sie wollen das selbe Energie-Level haben, die gleiche Stimmung teilen. Manchmal fühle ich mich hier genauso. Die Sprache ist mein Alkohol. Ich muss warten, bis ich alt genug bin und bei allem mitmachen darf.

Ich genieße es, in einer Gruppe zu sitzen, ihre Dynamik zu beobachten, zwischendrin Wörter aufzuschnappen und mitzulachen. Sonst fühle ich mich oft wie die Leserin einer Geschichte. Die priviligierte Leserin einer komplexen Geschichte, die das Buch immer wieder zuklappen kann.

Vor ein paar Tagen habe ich mit einer Freundin aus dem Iran telefoniert. Sie meinte, dass sie sich so sehr wünscht, wie ich mit den Händen an der frischen Luft zu arbeiten. “Aber warum machst du es denn nicht?” frage ich sie. Die Antwort ist einfach. Meine Privilegien werden ihr verweigert. Einfach so irgendwo auf eine Farm fahren, es scheint ihr unmöglich… “Was fühlst du, wenn ich dir von all den Restriktionen erzähle, von den Problemen, der Aussichtslosigkeit, dem Aktivismus, der konstanten Überwachen und der ständigen Angst, wegen dem kleinsten Widerstand im Gefängnis zu landen?”
“Frustration und Enttäuschung”, meinte ich. “Es bringt mich ein Stück näher zur Realität. Weckt mich auf. Und gleichzeitig fühle ich diese Realität so weit weg von mir. Als würde ich ein Buch lesen.” Um ihre Situation wirklich verstehen zu können, müsste ich in ihrem Körper stecken, denn es ist kaum möglich, meine Privilegien abzulegen und wirklich die Situation von ihr nachzufühlen. Ich würde so gerne! Aber was bräuchte es? Haare färben? Monate lang in der Sonne sein? Ein Kopftuch tragen? An dem besagten Ort wohnen und Geld verdienen? Kontakt zu meinem sicheren Hafen in Deutschland abbrechen? Nationalität wechseln und eventuell sogar Religion? Wie weit müsste ich gehen um mein Umfeld genauso zu erfahren und vorallem, genauso behandelt zu werden…?

Einmal habe ich eine schwarze Maske auf einer Feier getragen. Fast niemand kannte mich. Alle wussten, dass ich dazugeladen war, doch kaum einer traute sich, mich anzusprechen. Manche baten mich, die Maske abzusetzen, andere ignorierten mich… Ich habe mich alleine gefühlt. 4 Stunden habe ich getragen, dann wollte ich es einfach nicht mehr aushalten, wollte einfach nicht mehr so gesehen werden. Ich nahm meine Maske ab und die Gruppe fing an mit mir zu reden. Ich fühlte mich wieder zugehörig…

Wenn ich etwas dazu lerne, mich entwickel, dem erfüllten Leben ein Stückchen näher komme, geht es für mich meistens darum, Vertrauen zu haben. In mich selber und in die Welt. Angst abzulegen, Vertrauen aufzubauen. Aber wie weit kann das für jemanden stimmen, der im Krieg aufwächst? Wenn der Hass so nah ist, und die Trümmer so hoch…? Wenn wir wissen, dass es nicht alles wieder gut wird. Zumindest nicht hier, nicht zu dieser Zeit…
Ist es ein Privileg um über inneren und äußeren Frieden nachzudenken?

Selten war ich dem tatsächlichen Geschehen von derartiger Brutalität so nah. Mein Herz schmerzt, wenn ich an das Gespräch über Hebron heute nachdenke. Jeden Tag dringt das israelische Militär dort in Wohnungen ein, zu unbegründeten Zeiten, macht den Bewohnern Angst, schüchtert sie ein. So halten sie die Gegend in Kontrolle und halten die Bewohner klein. Seit 1967 (nach dem 6 jährigen Kireg) ist Hebron Teil der besetzen Gebiete (Gaza, Golan Höhen, West-Jordanland) und demnach 24/7 unter Beobachtung durch das israelische Militär. Siedler, hauptsächlich mit europäischen Wurzeln (Ashkenazi) begonnen, ihre Häuser dort zu bauen. Auch wenn es offiziell in dem Vertrag mit der UN nicht erlaubt ist, wird in diese Vorhaben nicht eingegriffen und die Fälle werden ohne Folgen schnellst möglich wieder vergessen. Als dann das Argument aufkam, dass sie ja Eukalyptusbäume pflanzen würden, die gut für die Umwelt seien, war ich einfach nur noch traurig.

(Wer mehr über die Besetzung lesen möchte: https://972mag.com/)

Seit ich in der Stadt wohne, begegne ich diesem Rassismus auch im Alltag. Gestern zum Beispiel saß ich an einer Bushaltestelle neben Phil, einem äthiopischen jungen Menschen. Ich mochte seine Augen. Lange habe ich bei einem Fremden nicht so ein Vertrauen gespürt. Oft sind die Menschen, denen ich hier auf der Straße begegne, sehr direkt mit ihrem Interesse, bis zu aufdringlich und grenzüberschreitend. Phil wirkte irgendwie schüchtern und einfach richtig nett. Vor einem halben Jahr hatte er ein Restaurant aufgemacht, er wirkte so glücklich und stolz darauf. Neben uns begann ein betrunkener Mann ihn zu fragen, welcher Elternteil von Phil denn jüdisch wäre. Phil meinte, seine Eltern wären beide Juden. Der Betrunkene bestritt diese Möglichkeit. “Entweder Mutter, oder Vater!” Ruhig wiederholte Phil seine Antwort ein paar mal. Dann kam mein Bus und ich verabschiedete mich. Ich wusste, es war etwas faul, aber ich die Situation nicht gut genug, um darauf adequat zu reagieren… Auf meine schuldige Nachricht antwortete er:

לא נורא, יש תמיד מקרים כאלה ‏בחיים…. ‏
כנראה ‏הוא שיכור.
הכל טוב, ‏אין לך עלמה להצתער

Kein Problem. Es gibt immer wieder solche Situationen im Leben. Er war wohl betrunken. Es ist alles ok, es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen kannst.

Und genau deswegen lerne ich Hebräisch. Damit ich Situationen deuten, die versteckte Wut und die Trauer verstehen lerne, und den Menschen im Alltag begegnen kann… Damit ich nicht nur zuschauen muss, damit ich eine Figur des Romans werde.

One thought on “Mittendrin

  1. Bein Wiederlesen dieses Eintrags meine Erfahrung: ich bin fast 3x so alt wie du, und drücke wieder die Schulbank. Heilpraktiker ist das Ziel. Und das im Pensionsalter. Wozu? Der Punkt ist nie erreicht, wann man etwas anfängt, und auch das vorgenommene Ziel kann niemand infrage stellen. Jeder Weg, selbst wenn er sich als Sackgasse erweisen sollte, ist ein Stück Weg zu uns selbst. Zu dem, was wir noch vor uns selbst verborgen halten. Je ernster wir das nehmen, desto leichter kann es uns fallen, den anderen zu verstehen, dem kommt kein Hineinversetzen nach. Oder so: Es gibt einen Punkt, wo das sich Hineinversetzenwollen einem den Weg zu sich selbst versperrt. Das kann es wohl nicht sein. Je mehr man bei sich ist, desto deutlicher werden die Bilder der Versöhnung auch der streitenden Parteien, selbst wenn diese das noch gar nicht als Möglichkeit erahnen. Der eigene innere Frieden ist die Brücke zu beiden Seiten, und insofern auch eine Brücke zwischen den beiden Seiten.

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