Kamera-Einstellung

Mein Geschmack ist sensibler geworden. Ich erkenne eine Frucht, die genug Zeit hatte, ihren Geschmack zu entfalten, bevor sie gepflückt wurde. Das haben mich die frischen Granatäpfel, Mangos und Feigen gelert. Jeden Tag bin ich auf’s Neue zum Baum gegangen, bzw. auf den Baum geklettert, habe die passende Frucht (nicht zu früh, aber auch nicht von Fliegen beschlagnahmt) ausgewählt und anschließend sitzend auf dem Boden auseinander genommen. Ohne Messer und Gabel, nur mit Hand und Mund. Und ich wiederhole mich: ich rede von Mangos und Granatäpfeln. Danach war selbstverständlich wie bei einem kleinem Kind mein halbes Gesicht fruchtig und wenn ich einen besonders freudigen Tag hatte auch noch das T-Shirt mit dazu. Es war eindeutig: Ich hatte gegessen und es genossen. Und das war auch das Einzige, worauf ich mich konzentriert habe, in diesem Moment.

Auch mein Blick hat sich verändert. Ich sehe eine Schönheit in Dingen, Menschen und Pflanzen, die ich zuvor nicht erkannt hatte. Sogar Männer sind mir sympatischer, rein was die Optik angeht.
Vielleicht kommt das durch die kontinuierliche Präsens von Liebe, die ich spüre, nicht zu jemandem spezifisch gerichtet. Oder durch den Geist einer Reisenden, die sich von dem neuen Entzücken lässt und das nimmt, was ihr geboten wird. Den Moment akzeptiert.
Vielleicht ist es auch nur die Zeit, die mir plötzlich gegeben scheint, wo sie doch sonst immer schien weg zu laufen. Doch auch das Reden mit Händen und Füßen trägt dazu bei. Wo die Sprache noch nicht ausreicht, lerne ich mein Umfeld durch Berührung und Blicke kennen. Ich lenke meine Konzentration auf andere Dinge, suche nach der Essenz der Botschaft, nach dem Kern. Ich switche zwischen Paronama- und Makroeinstellung. Manchmal wird meine Linse groß und fängt alles ein, und manchmal gibt es nur eins, das wichtig ist und ich bin ganz zentriert.

Letzte Woche habe ich in der in der Früh erfahren, dass ich nicht zur Uni kommen muss, da alle öffentlichen Gebäude aus Sicherheitsgründen geschlossen waren. Um die 300 Raketen waren auf uns gezielt worden, nachdem Bibi (Nitanyahu) den Auftrag erteilt hatte, einen Terroristen in Gaza zu ermorden. Am Tag nach dem Geschehen gab es in dem Kurs mit Juden und Arabern (und einer nicht-religiösen Deutschen) eine Diskussion. Die Spannung zwischen beiden jüdischen TeilnehmerInnen nicht zu übersehen. Doch einer der beiden Streitenden hat so schnell geredet, dass ich kaum etwas verstehen konnte. Er war in Rage und von seinem Gefühl geleitet. Und ich hab für einen Moment vergessen, worum es geht und bat ihn um langsamer zu reden. Doch es ging es nicht um das Detail, sondern um den Kontext. Die einzelnen Worte waren unwichtig. Ich musste raus zoomen und mich von der Makroeinstellung für einen Moment verabschieden.

Die Diskussion kam unerwartet. Ich hatte sie nicht kommen sehen. Und genau das ist etwas, wovor Abiya mich schon öfter gewarnt hat.  Die Situation kann von jetzt auf gleich umschlagen und ohne es kommen zu sehen, sieht die Welt ganz anders aus. Was ich hier kennenlerne ist die Notwendigkeit, ganz genau nachzuspüren, was die Situation gerade erfordert. Meine so geahnte Unabhängigkeit und Flexibilität wurde hier schon mehrmals auf die Probe gestellt. Ich kann mir vorstellen, wie einfach es ist, hier unterzugehen, denn 100%-ige Sicherheit ist hier ein Ding der Unmöglichkeit. Ohne einer (zwei doer drei) Alternative(n) kann ich mich ganz schnell verloren fühlen, im Stich gelassen, vergessen. Es ist wie eine konstante Unsicherheit, wie ein durchsichtiges Tuch, das auf dem Land liegt.

Nichts ist fix. Auch die sozialen Regeln nicht. Die Leute machen das, was eben gerade passt und am praktischsten ist. Und das kann sich eben von heute auf morgen auch mal komplett ändern.
Mir gibt das ein Gefühl von Freiheit. Ich werde weniger schief angeschaut, wenn ich auf einen Baum klettere und ich darf meine Meinung am Tag der Verabredung verändern, falls ich gerade Lust auf etwas anderes habe. Menschen um mich herum sitzen nicht gerade beim Essen, mit beiden Händen auf dem Tisch und führen den Löffel zum Mund. Sie haben einen Fuß auf dem Sofa, hauen alles auf einen Teller, halten diesen in der Hand beim Essen, mit dem Kopf halb in der Schüssel. Sie treffen sich zu Shabbat zum gemeinsamen Abendessen und kaufen am Markt ein oder in Läden, in denen Nüsse, Trockenfrüchte, Getreide und Schalenfrüchte offen in großen Säcken angeboten werden. Es hat etwas tierisches, lebendiges, manchmal herb und manchmal sanft.