Wofür die Musik spielt

Die Stille im Haus. Eine Stille, der ich entfliehen möchte. Eine Stille, in der Gedanken sich stapeln, sich schwer anfühlen und gleichzeitig wie Papiere in einem Büro herumfliegen, durch das ein starker Luftzug geht. Ich weiß, dass ich schreiben will, doch ich finde keinen Anfang, spüre keine Klarheit über mein Aussage. Sobald ich die Musik anmache habe ich das Gefühl als transportiere ich die Stille von außen nach innen. Ich finde einen Weg, den Gedankenqualm zu zentrieren, ihm eine Richtung zu geben, bis er sich zu einem Fluss formt und fließt. Auch wenn ich die Richtung nicht sofort klar ist, ich spüre Bewegung.

Ich erinnere mich an den Freitag letzter Woche. Die Nacht hatte ich auf der Couch auf dem Balkon eines Freundes verbracht. Ich war ganz nah dem Unwetter draußen, mit prasselndem Regen auf dem Dach und sanftem Wind auf meinem Gesicht. Morgens hat mir das Sonnenlicht den neuen Tag angekündigt… Ich bin aufgewacht und wusste ganz genau, was ich will. Ich bin ich an den Strand gefahren, einen mit wenig Menschen. Die Wellen waren mächtiger als sonst. Mit den Sandalen in der Hand und alle paar Meter Wasser über den nakten Füßen, bin ich also in Richtung Sonne gelaufen, und die Gedanken haben sich eingehakt. Wo spielt eigentlich die Musik? Und welche Rolle spielt sie in meinem Leben?
Sie war ursprünglich der Grund, hierher zukommen. Ich wollte neue Melodien kennenlernen, mich in die Rhythmen hier hineinfühlen. Doch dann war ich hier und alles ist anders gekommen. Ökologie, Politik, Sprache, Gesundheit, Beziehung, Liebe, Gemeinschaft, Warnehmung, Körper, Sinne, Leben.. Diese Dinge sind mir im Alltag begegnet, mit diesen Dingen haben sich die Menschen in meiner Umgebung beschäftigt. Und ich bin gefolgt, dem was da war. Ich bin mitgeflossen, hab mich tragen lassen von meinem Umfeld. Und wenn es sich ergeben hat, habe ich meine Geige gepackt, habe die Menschen in der Früh mit meinen Tönen geweckt oder die Gitarre am Lagerfeuer begleitet. Und das war wunderbar, solange ich in kleinen Gemeinschaften gelebt habe, die Natur um mich herum, eine klare Aufgabe und wenig Ziele. Nach dem Sommer hat sich das Blatt gewendet. Jetzt bin ich in der Stadt. Alleine. In einer großen und mehr oder weniger leeren Wohnung, umgeben von Baugerüsten. Ich habe feste Termine und bin in geschlossenen Räumen. Aber vor allem bin ich von tausenden von Menschen umgeben, jede(r) mit einer anderen Geschichte. Sie zeigen mir die zauberhafte Welt der unendlichen Möglichkeiten und ich reiße die Augen weit auf. Ich will überall gleichzeitig sein und allen gerecht werden. Ich entdecke die Kehrseite meiner Offenheit. Ich werde mitgerissen, von einer Seite zur anderen geschubst. Alle sagen was anderes, schicken mich woanders hin. Woher weiß ich, was davon wirklich wichtig für mich ist? WOFÜR entscheide ich mich? Wofür entscheide ICH mich?

Ich merke, wie ich mich langsam verkrieche und versuche unscheinbar zu werden. Es ist einfach zu viel. Zu viel Auswahl, zu viel Erwartung, zu viel Vergleich, zu viel Bürokratie. Kurzzeitig entgleise ich bei dem Versuch, vor meiner Uni rechtzufertigen, was ich hier eigentlich mache. Den Tätigkeiten einen Wert zuzuschreiben, meiner Existenz einen Sinn. Anscheinend ist es nicht mehr genug, einfach nur zu sein. Jetzt müssen Worte daran geheftet werden, Creditpoints und vor allem Wertung. Ich spüre Druck, beise die Zähne zusammen und werde unruhig. Wieso muss ich bewerten, was ich hier mache? Wieso hat das Kurse besuchen in der Uni plötzich mehr Wert als das Kennenlernen der Menschen? Meine ganze Perspektive verschiebt sich und meine Motivation folgt. Jetzt geht es scheinbar darum, was andere wollen und nicht, was ich will.

Ich biege die Brille, und schau mir das ganze nochmal ganz in Ruhe an. Ich suche nach der Präsens der Musik in meinem Leben. Langsam kommen Bilder hoch. Den Sommer über habe ich Lieder geschrieben, Mantras für mich gesungen, um mich zu beruhigen oder zu zentrieren. Ich habe mir eine Playlist erstellt, nur mit hebräischen Liedern, die mich auf meiner Reise begleitet haben. Ich habe Texte auswendig gelernt und gesungen und die selben Lieder gehört, wie die Menschen hier. Fakto: Durch die Musik habe ich Hebräisch gelernt und mich den Menschen und der Kultur angenähert. Ja! Ich hab’s! Ich weiß, wie sich das in Worte fassen lässt: Integration durch Musik. Mit allem was dazu gehört. Sprache, Kultur, Menschen und Traditionen kennenzulernen, umzugehen mit dem Gefühl fremd und alleine zu sein, sich anzupassen, soziale Regeln wie ein kleines Kind zu lernen und seine eigene Identität und Rolle in das Neue zu integrieren.

Was ein Energieschub! Denn damit ist mir nicht nur klargeworden, was das Thema meiner Bachelorarbeit sein wird, sondern auch, dass alles, was ich in meinem Leben gemacht habe und weiterhin machen werde, irgendwann irgendwo seinen Platz finden wird. Wie es in der chinesischen Parabel von meinem Papa heißt. Manchmal sind es eigene Entscheidungen, manchmal passiert es einfach. Das Vorbereiten von Jugendlichen vor für ihren Kulturaustausch, das Folgen/Geben von Workshops mit Geflüchteten, Tanzen auf Balkanparties, Sammeln von Kochrezepten aus aller Welt, das Leben in einer internationalen WG, das Teilen einer Liebe mit einer Mexikanerin, das Hören traditioneller Musik aus Mali und Türkei, das Spielen irischer Volksmusik und das Lesen von Büchern einer nigerianischen Schriftstellerin. All das sind Dinge, die ich aus reinem Interesse gemacht habe. Ohne wirklich bewusst darüber nachzudenken, was mir das irgendwann mal bringen könnte. Ich bin 22 Jahre alt, und lebe zum 3. Mal alleine in einem mir fremden Land. Ich möchte dieser Leidenschaft ihre Wichtigkeit nicht mehr abschreiben. Sie ist nicht einfach nur ein Hobby am Rande. Ich kann sie zu einem Teil von meinem Lebens-Projekt machen.

Meine Motivation und meinen Antrieb dafür finde ich ganz tief in mir. Ich spüre keinerlei Zwang von außen. Dass es manchmal schwierig ist, kann ich akzeptieren. Denn meine Neugiere ist größer. Sie ist begleitet von etwas sehr Persönlichem. Einer Suche nach einem Zuhause. Einer Suche nach Tiefgang, nach etwas, dass mit dem Kern von mir resoniert. Denn jede Person, jeder Ton, jeder Ort und jede Frucht, der ich begegne, gibt mir die Chance, einem Teil von mir mehr Form zu geben. Ja, vielleicht entspringt diese Neugierde auch aus einem Gefühl von Einsamkeit. Einem Bedürfnis, meine Leidenschaften zu teilen. Mit Menschen, die Dinge ähnlich erleben wie ich. Bei denen ein Teil von mir ein Zuhause findet. Ich gebe mir die Möglichkeit, mich nicht einer einzigen Geschichten hinzugeben, sondern der Vielfalt in meiner Person Raum zu geben. Doch was passiert, wenn meine Seele sich über die ganze Welt verbreitet und überall ein Stück zuhause erlebt. Wo gehöre ich dann hin? Ich möchte all meine Freunde bei ihren tollen Projekten begleiten, ich möchte einen Teil davon formen, mit ihnen gemeinsam gestalten. Doch ich bin schon wieder weitergezogen. Ich habe mich für einen anderen Weg entschieden. Was mir bleibt ist die Verbindung zu ihnen und ihre Geschichten.

Es kommt eine tiefe Traurigkeit auf. Ein Gefühl von Zerissenheit und Entwurzelung. Etwas, dass mich als Individuum stark macht, pur, unabhängig, reich an Erfahrung und Weisheiten. Doch auch einsam. Und es lässt mich über meine Prioritäten reflektieren. Über das Bedürfnis „die Beste“ in etwas sein zu wollen. Denn ja, was wird mir davon bleiben? Außer distanzierter Anerkennung?

Was ich mir wünsche ist Verbindung. Und manchmal spüre ich sie ganz stark. Wie letzte Woche, als ich eine Meditationsstunde angeboten habe. Ich arbeite gerade als Freiwillige in einem Musikprojekt, in dem Menschen mit verschiedenen Sorten von geistiger Beeinträchtigung einen zwei-jährigen Kurs in Musik folgen und dadurch Teil des universitären Geschehens sind. Ich hatte mir vorgenommen, so wenig wie möglich auf der Geige zu tun. So simpel und zentriert wie möglich zu spielen. Denn es ging um die Gruppe, um Kontakt zu ihrem Inneren und nicht um ihre Aufmerksamkeit auf mich und meinem Können. Ich habe einfache Melodien gesucht und diese wiederholt. Und eigentlich habe ich meine ganze Improvisation auf einem Ton basiert, zu dem ich immer wieder zurückgekommen bin. Mal war der Ton ganz alleine, mal hauchig wie ein Atemzug, mal war er kräftig und erdend. Und manchmal habe ich ihn verbunden mit einem zweiten Ton zu gleicher Zeit, um den Raum zu öffnen für Emotionen. Dazu habe ich meine Stimme benutzt. Sie und der Klang meiner Geige haben eine Einheit geformt, sich entfernt von der Dynamik von Solo und Begleitung, ein Spiel ohne Hirarchie. Das Spiel war Mantra-artig, mit urvölkischem Charakter und beeinflusst durch all die Menschen und Musiken, denen ich auf meiner Reise bis hierher begegnet bin.
Die Gruppe war berührt und die Kollegen inspiriert. Was ich selber dabei erlebt habe, war die Kraft der Simplizität und der Purheit. Die Konzentration auf die Essenz. Und ein Stück Eingestehen meiner Fähigkeit, die Musik zu nutzen als Mittel um uns zu Verbinden. Mit uns selbst und dem, was uns umgibt.