Zwischen Juden und Soldaten

Chaos im Kopf. Viel unsortieres Blabla, dem ich nur genauso „blabla“-artige Worte zuschreiben kann. Ich vermisse das „Ist mir Egal“-Gefühl, das mich die letzten Monate begleitet hat. „Ist mir egal“, in dem Sinne, dass alles nicht so tragisch ist. Dass wir nie alles wissen können und diese Unwissenheit eine kindliche Neugierde in unseren Alltag bringt. Dass wir genau den Weg gehen, der wichtig und richtig für uns ist und dass wir unserem Impuls folgen und darauf vertrauen dürfen, dass sich die Dinge schon irgendwie ergeben.
Doch das ist leicht gesagt aus der Perspektive einer sorglosen Reisenden, in einer Umgebung, die nur das Beste zu bieten scheint scheint. Es wirkt ein bisschen als wäre ich nochmal Kind gewesen, hätte die Welt durch meine naiven und verspielten Augen gesehen und wäre jetzt der Alltags-Erwachsenen-Realität begegnet. Dinge scheinen komplexer, mehr Menschen sind verstrickt und die bürokratischen Wege scheinen kein Ende zu finden… Plötzlich scheinen Dinge mühsam und von Problemen überhäuft und mein Blick bekommt einen besorgten und erwartungsvollen Schleier.

Doch vielleicht kann ich mich trotzdem versuchen an diese kindliche Haltung zu erinnern. Ich ergänze die chinesische Parabel durch eine Anekdote aus meinem eigenen Leben:

Die Wohnungssuche war wahrscheinlich der herausfordernste Teil der Reise bisher. Schon von Anfang an hat mich eine Art Sorge und Unruhe begleitet, ich müsse so früh wie möglich eine Adresse haben, natürlich mal wieder für bürokratische Zwecke; Versicherung, Bafög, Verträge, etc. Also bin ich immer wieder während der Zeit, in der ich auf den Farmen gelebt habe, zu Wohnungsbesichtigungen ins Zentrum von Israel gefahren. So bin ich von einer Wohnung zur nächsten gewandert, hab mit Mühen Treffen auf Hebräisch organisiert und verschiedenste Menschen kennengelernt.
Die erste Bekanntschaft war der Eisjunge (Alias der Mensch mit der stinkenden Hundewohnung) bei mir um die Ecke, bei dem ich heute noch manchmal vorbeigehe und mir das Bomben-Schoko-Eis hole, in Kombination mit Kokos oder Banane-Dattel. Manchmal, wenn ich so richtig Lust drauf hab. Durch ihn habe ich auch den Platz oben am Hügel kennengelernt, wo es ruhig ist und der Blick über der Stadt verweilen kann.
Während der Wohungssuche war ich gezwungen, jedes mal einen Schlafplatz für eine Nacht zu finden. Zum Glück kannte ich schon ein paar Menschen aus dem Norden und durfte bei ihnen nächtigen. So hab ich mich an Eden gewendet und durch ihn hat sich mir eine neue Welt aufgetan. Junge Menschen, die über Politik reden, sich mit sozialkritischen Themen auseinander setzen und die, für mich interessanten Orte kennen. Es war anstrengend und ermüdend, denn ich musste um Hilfe fragen und habe mich abhängig gefühlt. (Aber was ist eigentlich Unabhängigkeit? Alles allein zu machen? Oder zu wissen, wie mensch nach Hilfe fragt?)

Als ich in die Wohnung eingezogen bin, die ich für den „perfekten“ Ort gehalten habe, wusste ich nicht, was es bedeutet, in einem Haus mit Bauarbeiten zu wohnen. Ich hatte mich auf die schönen Bilder an den Wänden gefreut, die aus alten Kronkorken, Schallplatten und Baumaterial gestaltet waren. Ich hatte an die Atmosphäre gedacht, die der Vormieter der Wohung gegeben hat. Nicht an die Tatsache, dass das Wohnzimmer jeden Tag aufs Neue von Staub bedeckt wird, dass ich am Morgen eine Bohrmaschiene so nah an meinem Ohr fühle, sodass ich mit Ohrstöpseln in den Ohren meinen Granatapfel esse. Ich hatte nicht daran gedacht, dass ich mit Anziehsachen schlafen muss, wenn ich das Fenster auflasse in der Nacht und den Bauarbeitern damit Einblick in mein Zimmer gewähre. Auch war mir nicht bewusst, dass ich mich andauernd mit meinem Vermieter koordinieren muss, der zwei mal die Woche kommen will um irgendwelchen Männern die Wohnung zu zeigen, die nach meinem Auszug renoviert und verkauft wird.  Und natürlich hatte ich nicht damit gerechnet, dass durch die Bauarbeiten an den Außenseiten des Hauses der Beton die Zimmerwände durchnässt und das Zimmer meiner Mitbewohnerin überflutet. Da Dvora ohnehin nie wirklich eingezogen war und sie immernoch das Wohnzimmersofa zum Schlafen nutzte, war es ihr ein Leichtes, in nur wenigen Tagen zu entscheiden, ihre Sachen zu packen und das Weite zu suchen. Ich war also auch nicht darauf vorbereitet, einen Monat nach meinem Einzug erneut nach einer/m MitbewohnerIn zu suchen.

Das einsame Münchner Manschkerl, auf der Suche nach jemandem, der die Wohnung teilen wolle und mit all diesen Gegebenheiten ok sei, plus der neusten Neuigkeit: 2 Wochen außerhalb schlafen (bezahltes Hotel oder selbstverantwortliches Wohnen mit Entschädigung) auf Grund von Renovierungsarbeiten im Treppenhaus. Die Auswahl war vorallem zwischen religiösen Juden (die meisten möchten nicht mit mir zusammen leben), Soldaten (Ich möchte nicht mit ihnen zusammen leben) und den Leuten irgendwo dazwischen. Es war ein Moment gekommen, wo meine bekannten Kategorien nicht mehr griffen. Militärsdienst Fotos auf Facebook war keine passende Kategodie mehr um bestimmte Werte zu erkennen, denn Menschen in meinem Alter sind grundsätzlich gerade fertig mit dem verpflichtenden Zivildienst und haben somit allesamt Fotos von sich in Militärskleidung unter ihren Facebookprofielbildern. Es gehört schließlich zu ihrem Alter für einige Jahre. Ich musste mir also neue Anhaltspunkte suchen um zu entscheiden, wen ich zu einer Besichtigung einlade: Das Lächeln, die Präsens der Natur oder die Kreativität der Bilder. Aber ehrlich gesagt; Ich hatte keine Ahnung. Am Ende hab ich einfach alle eingeladen, manche kamen, manche nicht, wie das hier meistens läuft.

So bin ich auch Dor (Generation) begegnet. Ich hatte auf seinen Profilbildern gesehen, dass er Nitanyahu wählt und war kurz davor gewesen, ihm abzusagen. Doch irgendwie klang er nett in seinen Nachrichten und ich war etwas hilflos also hab ich ihn eingeladen. Zwei Stunden war er bei mir, dabei hatte ich ihm von Anfang an gesagt, dass ich früh schlafen gehen wolle. Doch dann hat meine Neugierde mal wieder gesiegt. Bisher hatte ich noch nie die Möglichkeit mit jemanden so intensiv über politische und sozialkritische Themen zu reden, der wirklich so anderer Meinung ist und der bereit ist, mir von seinem Standpunkt zu erzählen, auch wenn ich ihm Videos zeige, die die entgegengesetzte politische Haltung vertreten. Unsere Verbindung war eine andere; der Umgang miteinander, die Lockerheit, die Kreativität. Mit dieser Basis haben wir uns an Themen gewagt, wo sich unsere Meinung unterscheidet. Er hatte mein Vokabelheft gesehen und die Seite mit den politischen Begriffen aufgeschlagen. Schon eine Weile davor hatte ich in meinem Kopf Ideen gesponnen, wie ich zu dem Thema überleiten könne. Endlich war die Möglichkeit da. Es war richtig aufregend, seinen Standpunkt zu Feminismus zu hören und meinen eigenen zu testen.. Er meinte, dass wir ja eh schon alle gleich seien. Er als Kind einer Mutter, ohne Vater aufgewachsen, hätte Fußball gehasst und würde Frauen als unglaublich stark sehen. Er sehe keine Ungleichheit. Wozu der Feminismus? Er würde doch nur alles viel mehr zerreißen. Das ist einfach zu sagen, wenn man ein Mann ist. Auch wenn man, so wie ich, immer gerne in Jungsklamotten rumgelaufen ist und die Vorzeigeperson der sogenannten starken, unabhängigen Frau ist. Ich hab mich vorzüglich versteckt, getarnt hinter diesem Bild und mir gleichzeitig den Respekt auf dem Bolzplatz erkämpft. Ich dachte, wenn ich genauso bin wie die Jungs, dann kann ich auch dazu gehören. Und alle Frauen könnten das ja tun. Erst ganz langsam hab ich die tiefer liegenden Schichten entdeckt. Wie letzte Woche am Strand. Als ich von zwei Männern angesprochen wurde, die einfach nicht locker gelassen haben und ich jedem auf’s Neue ohne Vorurteile begegnen wollte. Ich wollte ihnen glauben, dass sie einfach nur mit mir abhängen wollen. Bis der eine mich geküsste hat und der andere nach meiner Schambehaarung gefragt hat. Oder zum Beispiel in der Musik. Lange dachte ich, ich müsste die gleiche Musik spielen, damit ich dazu gehören kann und eine „echte“ Musikerin bin…  Nun ja, mehr oder weniger mit dieser Ausführlichkeit habe ich also Dor erzählt, was mein Standpunkt zu dem Thema ist. Er hat mir gezeigt, wie schwer es doch ist, sich eine Meinung zu bilden, ohne Teil des Geschehens zu sein. Denn noch vor nicht all zu langer Zeit hätte ich ihm zugestimmt. Wozu der ganze Kampf, es gibt doch wichtigeres…

Neben Dor gab es dann noch Simcha (Glück). Ihn hab ich an seinem Arbeitsplatz getroffen in einem Laden für Barfußschuhe. Nachdem ich die Bestätigung für meinen ausgesprochen guten Stand bekommen habe (ich tippe auf Yoga und Barfuß laufen), sind wir in ein arabisches Café gegangen und haben Salbei-Tee bestellt. Dazu Süßigkeiten, beide aus der Gewohnheit heraus, der Gesellschaft wegen etwas zu essen, was wir eigentlich nicht auf unserer persönlichen Speisekarte stehen haben. Das haben wir relativ bald raus bekommen. Denn wir teilen unglaublich viel. Simcha ist der zweite Mensch in Israel, der in meinem Alter oder sogar jünger ist und mit dem ich abhänge. Und noch dazu hat er amerikanische Eltern (meine Vorurteile werden langsamer Hand abgebaut) und kommt ursprünglich aus einem „Haredim“-Haushalt, was bedeutet, dass er orthodox erzogen wurde, auf eine reine Jungenschule gegangen ist und sein Leben nach der Religion gerichtet hat. Und jetzt ist er in Tel Aviv und sucht nach einer neuen Bedeutung seines Lebens. Im hebräischen sagt man „Ich bin fragend gegangen“, wenn jemand aus der strengen Religion aussteigt.
Die nächsten Tage war Simcha also noch zweimal bei mir zu Hause um die Umstände der Bauarbeiten life mitzuerleben. Wie ich nur auf den Moment gewartet hatte, dass wir reden, und kein Wort davon verstehen, was der/die andere sagt. Endlich kam der Moment, und ich glaube Schock genug, denn er ist dann letztendlich nicht eingezogen. Die Freundschaft bleibt zum Glück.

Zufälligerweise hatte ich vor zwei Wochen jemanden beim Kontakt-Tanz kennengelernt, mit dem ich wortlos Nummern ausgetauscht hatte. Bei unserem Wiedersehen (zum ersten Mal dann mit Worten) hat er mich zu einem Ort mitgenommen, der „Baum in der Stadt“ genannt wird. Eine Gruppe von Leuten, die dort kleine Stadtgärten mit Kompost haben, Bokaschi machen, natürliche Kosmetikprodukte herstellen und Workshops für ein ökologisches Leben in der Stadt geben. Und natürlich hab ich an diesem Ort meinen alten Freund Henk wiedergetroffen. Israel ist wie München, ein Dorf, in dem sich jeder kennt. Vielleicht liegt es an dem Militärsdienst, dass einmal alle durchgemischt werden, für 2/3 Jahre an einem zufällig ausgewählten Ort ihren Dienst ableisten, dort Freunde finden und dann wieder zurück in ihre Heimat gehen oder in die Hauptstädte zum Studieren. Oder an der kleinen Blase in der ich mich bewege. Denn nicht nur innerhalb der Israelis passiert mir das. Letzte Woche habe ich eine Amerikanerin bei Extatic Dance kennengelernt und sie 3 Tage später in dem kleinen Garten im „Baum in der Stadt“ wiedergetroffen. Auch ihr wurde ein kaputtes Fahrrad verkauft und sie hatte ein heiden Drama mit ihrer Wohung. Zeit zum Zufall-Zweifeln…

An diesem Abend habe ich also auch erfahren, dass Nitai nach einer Wohnung sucht und durch die Sache mit dem Treppenhaus konnte ich ihm einen unschlagbaren Deal anbieten: 2500 Shekel weniger, als der ursprüngliche, eh schon günstige Wohnpreis. Nach einem Monat hin und her und dauerndem dolmetschen zwischen allen Beteiligten hab ich also einen Mitbewohner, wohne selber einen Monat umsonst in der Wohnung und bin für zwei Wochen lärmfrei bei meinem Untervermieter untergebracht, die einen Ninja haben (hervorragenden Küchenmixer). Ich kann nicht einfach so Freunde zu mir nach Hause einladen, dafür hab ich grad keine Verantwortung und wohne zusammen mit einer kreativen Familie. Das ist der Stand der Dinge heute. Ich hätte nie erwartet, dass es sich so entwickelt und wer mir alles auf dem Weg hierhin begegnen würde. Vielleicht ändert es sich schon morgen. Oder wenn ich zurück ins Chaoshaus mit Nitai zusammen ziehe. Vielleicht verfluche ich meine Entscheidung, vielleicht werden wir richtig gute Freunde, vielleicht kommt alles ganz anders.