“Alles ist besser als Bibi.”

Heute morgen bekomme ich einen Anruf. „Wähle Likud. `Ganz` ist die falsche Wahl. Er gehört der Linken an. Wähle Likud!“

Ein kurzer Blick hinter die Kulissen: Likud ist eine rechte Partei mit dem Vorsitzenden Benyamin Nitanyahu. Derzeit versucht er, eine “Immunität”/חסינות (Khasinut) zu ergattern, um nicht für die persönliche Nutzung des staatlichen Geldes verurteilt zu werden. Alle kennen die Story. Er wird auch verantwortlich gemacht für die gewaltvolle Behandlung der ethiopischen Gemeinschaft. Im Norden von Israel, in Kiryat Shmona wurde vor Kurzem von einer Dame um eine bessere gesundheitliche Versorgung gebeten. Bibis Reaktion darauf: “You are boring us!”. Es gab einen großen Aufruhr, doch in den Umfragen zählt Kiryat Shmona weiterhin zu einem der Bezirken mit den meisten Bibi Wählern. Er verspricht den Orthodoxen Juden finanzielle Unterstützung und dem Staat ihn zu beschützen, wie kein anderer.

Nach dem Anruf bin ich kurz überrascht darüber, dass sie meine Nummer haben. Nur kurz. Dann erinnere ich mich, dass „die Linken“ hier wie ein Schimpfwort verwendet wird und werde ich mir bewusst, wie aggressiv dieser Wahlkampf eigentlich ist. Es ist ein wahrer Hahnenkampf. „Wählt Blau-Weiß oder Erdogan“ lautet der Spruch der Opposition. Im Grunde gibt es nur diese zwei Optionen, um eine Regierung zu bilden.

Straßen reden kaum über etwas anderes. Mir wird erzählt von Zeiten, da haben sich Demonstranten mit Zelt und Sack und Pack auf eine der zentralen Boulevards begeben um dort für einige Wochen zu demonstrieren. Doch seit dem hat sich nichts zum Positiven gewendet. Das Leben wird immer härter.

Während ich auf meinen Hummus warte, spricht mich der Mann gegenüber an. Er hat vielleciht noch zwei Zähne und seine Unterlippe hängt ein wenig nach vorne. Er trägt das T-Shirt der Partei Likud. „Bestelle nicht zu viel, gehe sparsam mit deinem Geld um“ meint er zu mir, als ich zu dem Hummus auch noch Falafel und Salat bestelle. Ich frage ihn, wieso er für die Partei auf seinem T-Shirt arbeitet. „Es gibt Geld. Ich habe keine Wahl.“

Husam ruft mich an. Ich frage ihn, wen er wählen wird. „Die Araber wählen die Araber, die Russen die Russen, und die Juden wählen die Juden. Jeder die Gruppe, wo er dazugehört.“ Vor nicht allzu langer Zeit habe ich auch begriffen, warum das mit der Ein-Staat-Lösung für die meisten Juden keine Option ist. Denn dann sind die Araber plötzlich in Überzahl und die Juden verlieren die Mehrheit in dem Statt, den sie für sich aufgebaut haben.

Strategie steht vor tatsächlicher Demokratie, denn die Angst, dass Bibi nach 10 Jahren weiterhin Minister-Präsident bleibt, ist groß. Freunde von mir arbeiten bei der Opposition. Wirklich unterstützen tun sie deren Meinung auch nicht, „doch alles ist besser als Bibi“. So lautet die Devise. Das Land jauchzt nach etwas Neuem, nach Veränderung, nach Hoffnung. „Ich muss ständig daran arbeiten, nicht zynisch zu werden, bei dem was hier passiert. Ich will es weiterhin ernst nehmen, doch es fällt mir nicht leicht.“ Morgen ist der 3. Versuch eine neue Regierung zu wählen. Die Menschen werden ungeduldig.

Letztens habe ich einen Bekannten nach all den Büchern in seinem Schrank gefragt. „Geheimnisse“, Regelwerke, Erläuterungen rund um das Judentum. Außerdem die Tanach, die 3 heiligen Bücher. Er habe sie im Schrank stehen, doch es ist mehr ein Teil der Einrichtung, als das er tatsächlich darin liest, meint er. Er erzählt ein wenig von seiner Art, die Religion zu leben und weiht mich dann in ein Gerücht ein: Es liegt etwas in der Luft. Das Jahr 2020 soll einen großen Umschwung bringen.  In verschiedenen Schriften wird darauf hingewiesen, es gibt mehrere Zeichen von unterschiedlichen Quellen. Der Gallilee Sea soll den höchsten Wasserspiegel seit Jahrzehnten erreichen. Es wird ein Krieg herrschen, der schlimmer ist als das, was bisher besteht UND es wird keine Regierung geben. Ja. Man sagt, dass der Messias kommt.

Bei einer Sache kann ich ihm nicht widersprechen. Es hängt etwas in der Luft. Außer Abgasen, qualmt es von Frustration, Hoffnungslosigkeit und Agression. Freunde fragen mich, wie man denn Motivation finde. Auch ich spüre eine Unruhe, die mich die Tage über begleitet. Bin nicht hier und nicht dort. Will zu Hause sein, weg von all dem Geschehen, doch nicht allein sein. Will Menschen treffen, doch nicht reden. Ich bin müde, ausgelaugt. Ich versuche lieb zu mir zu sein und mich zu erholen. Aber von was? Von dem gescheiterten Versuch, die Grenze nach Jordanien zu überqueren? Von den hektischen Tagen in Ramallah? Von den fremdartigen Rufen auf der Straße? „Corona! Corona!“ schrien sie, als ich nur im Taxi an ihen vorbeifuhr. „They don’t understand! So stupid people! So closed minded! You are German so they think you have the Corona.”, meinte Rana. Ich durfe bei ihr und ihrer Familie schlafen. Sie waren einige der Wenigen, die zumindest gebrochenes Englisch sprechen. Ich wurde gut behandelt. Doch es fiel mir nicht einfach. Sie liebten mich vom ersten Moment an für meine europäische Herrkunft. Andauernd wurde von dem guten, fortschrittlichen Westen gesprochen. Sie gaben sich alle Mühe, mir vegetarisches Essen anzubieten und mir zu erklären, warum ich doch an Gott glauben sollte. Nach einem Tag hatte ich genug und bin mit den letzten paar Shekel nach Jerusalem gefahren. In mir kam ein Gefühl von Zuhause auf. Ich ging zu den halboffenen Ständen, die noch zu später Stunde geöffnet waren und fragte nach einem Keks mit Dattelfüllung. „Zum Wohl“ meinte der Verkäufer und ich verstand seine Geste. Ich bat beim nächsten Laden um meinen Becher mit heißem Wasser aufzufüllen und auch da war mir schnell deutlich, dass ich dafür nicht zahlen müsse. Ich erinnerte mich an den Moment, als ich das letzte Mal in einem Imbiss fragte, ob ich vom Wasserhahn trinken könne und der Verkäufer nur meinte: „Du darfst nicht. Du musst“.
Im Bus zum Hauptbahnhof saßen mir Vincent und Monika gegenüber. Sie waren verwundert, dass niemand den leeren Sitz neben ihnen nutzte, obwohl der Bus voll war. Also erklärte ich den zwei Touristen die Geschlechtertrennung bei der Sitzordnung unter den ortodoxen Juden. Ich wurde mir wieder bewusst, dass dieser Ort mir nicht mehr fremd ist. Ich war stolz darauf, ihnen den Weg zum Bus zurück nach Tel Aviv zu zeigen und es machte mir nichts aus, in dem vollen Bus die Stunde Fahrt zu stehen. Ich war einfach nur froh, ganz nah an meinem zu Hause zu sein.