Fantasien

Bis zum Kragen stehen uns die Dinge, mit denen wir uns sonst im Alltag beschäftigen. Und plötzlich fällt der Boden weg, mit all dem Müll, und wir stehen wie auf einem Podest ganz alleine, ganz nakt im nichts. Ich blicke an mir runter und betrachte diesen krummen Körper. Meine Zehen sind länger als ich dachte, die Sehnen sichtbar, wenn ich nach Gleichgewicht suche. An meinen Knien entdecke ich eine Schürfwunde und erinnere mich an den Tag, an dem mich die Wellen mitnehmen wollten. Ich betrachte mein Schamhaar und seine goldrötliche Farbe. Ich muss mich etwas nach vorne beugen um es zu sehen. Mein Blick folgt der Linie bis zum Bauchnabel. Doch die Richtung der einzelnen Haare ist undeutlich. Ich verkleinere den Abstand zwischen Kinn und Brust und entdecke einen kleinen roten Fleck, etwas links der Mitte, auf halben Höhe zur Brustwarze. Kommt der von dem Baum, auf dem ich gestern war? Manchmal juckt es mich, wenn Teile der Rinde abbröckeln und auf meine nackte Haut treffen. Ich atme tief ein und frage mich wohin mit mir. Wege tauchen auf und verschwinden im nächsten Moment. Ganz langsam taste ich mit dem großen Zeh, ob da nicht doch etwas ist. Doch es bleibt leere Schwärze. Ich blicke erneut auf meinen Körper herunter. Jetzt sind wir hier wohl zu zweit. Allein.

Zeit zum denken. War das nicht das, wovor die Gurus der Sekten so Angst haben? Dass ihre Mitglieder plötzlich verstehen, dass sie sich für ein anderes Leben entscheiden können? Dass sie sich befreien können, von der scheinbar einzigen Wahrheit…  Ist unsere Gesellschaft vielleicht jetzt bereit, sich mit etwas auseinander zu setzen, dass sie sonst nicht sehen will? Bin ich bereit dazu?

Was bedeutet handeln jetzt?
Wie bin ich weiterhin ein Teil des Ganzen, wenn meine physische Präsens auf den Straßen verschwindet?
Wo finde ich meinen eigenen Wert, wenn plötzlich alles Gewohnte wegfällt?

Können wir duch die Isolation unserer Fantasie wieder begegnen?

Ich stelle mir einen Michael Ende vor, der ganz „Fantasien“ kreiert hat. Oder John Ronald Reuel Tolkien, der die Orks und Elfen in seinen Büchern zum Leben erweckt hat. Doch ist das nicht die selbe Realität, nur mit anderen Charaktären? Können wir uns überhaupt eine neue Realität ausmalen, solange wir ihr nicht begegnen? Vielleicht wird uns ja gerade die Chance geboten, diese Alternative abzutasten, zu erspüren, ein Stück weit auszuleben.

Wohin wollen wir die Energie dieses weltweiten Erdbebens hinleiten? Ja, wie sieht eine Revolution in unserer Zeit überhaupt aus? Findet sie auf der Straße statt? Oder ist sie ganz leise? Bedeutet sie, sich Zeit nehmen zum Denken und langsam unbemerkt diese scheinbare Wahrheit zu verlassen? Oder ist sie ganz einfach wie mein Mitbewohner sagt:

„Glücklich Sein in der Isolation. Das ist Revolution!“

Um mich herum scheint ein Konformismus zu entstehen, der mir selbst auch nicht fremd ist. Den Richtlinien zu folgen scheint mir gerade in vielen Aspekten das Richtige zu sein. Und mich mit mir selber auseinander zu setzen, habe ich in den letzten Monaten noch als Privileg gesehen, das ich mit offenen Armen empfangen habe. Jetzt ist die Isolation von außen angekommen, und die Rebellin in mir meint, sie müsse raus in die Welt, anstatt zuzuschauen, wie Staat und Autoritäten die Situation kontrollieren. Von Zuhause hab ich den Nahen Osten immer als brodelnde Quelle gesehen. Jetzt bin ich hier, schaue nach Europa, Deutschland und den Balkan und fühle mich weit weg von dem Geschehen, in das ich so gerne eingreifen würde.

Es wird Abend. Es regnet und die Entscheidung, noch rauszugehen, wird mir aus den Händen genommen. Erleichterung. Der Tag ist rum und all die Dilemmas auf morgen verschoben. Ich packe meine Geige aus und erlaube mir Musik zu machen. Einfach nur zu spielen, meine angefangenen Texte auszugraben und ihnen Form zu geben. Ich fange Melodien auf, die entstehen und schenke ihnen Achtung. Auch wenn es mal wieder die gleiche Tonart ist. Auch wenn es um Tonleitern und gebrochene Akkorde geht. Auch wenn es vor Einfachheit nur so strotzt.