Mit den Vögeln singen

Noch eine Nuss. Vielleicht ein Zitronenwasser? Keinen Kopf zum lesen. Geige? Eine Wahlnuss. Und ne Dattel. Und ne Matcha-Latte vielleicht? Mist, es gibt keine Milch. Also einfach pur? Etwas Honig dazu vielleicht. Hm. Noch ne Nuss, diesmal ne Mandel. Oder zwei. Ich setz mich mal hin. Heiß heute. Der Steinboden ist angenehm  kühl. Aber warte, ich sollte jetzt üben, abends sind zu viele Leute da. Noch ne Nuss, dann aber los!

Applaus. Ich komme erschöpft aus dem hinteren Zimmer raus. Mein Mitbewohner klatscht in die Hände. „Verstehst du jetzt, von welchem Stück ich gesprochen habe?“ – „Shifon (Roggenmehl)?“ fragt er. Ich lache. „Nein nein, Pugnani Kreisler. Unglaublicher Geiger. Ein Jahr lang hab ich daran geübt, dann hat es ein Jahr lang geruht und jetzt setz ich mich wieder dran.  Wow! Was eine Energie!“

An einer Straßenecke komm ich an einer kleinen Gruppe vorbei, sie fahren auf Rollschuhen und machen Turnübungen. Sie tollen rum und erinnern mich an die Zeit, wo ich mich mit meinen Freunden draußen getroffen habe um zu spielen. Oder als ich zum Bolzplatz gegangen bin und einfach mit denen gehangen hab, die dort waren. „Das ist wie die großen Ferien!“ sagt der eine, Blond-gefärbtes Haar, Wetter-gegerbtes Gesicht. „Ich kenn dich doch, oder? Woher?“ – „Das weiß ich nicht. Aber ich bin Teil des Stadtbildes.“ – „Stimmt, von der Ampel!“ Jetzt sehe ich auch seine grünen Keulen in dem kleinen Anhänger, auf dem er sitzt.
„Woher kommt dein Akzent?“ Eine neues Gesicht taucht auf.
„Was glaubst du denn?“
„Latein-Amerika!“
„OK, einverstanden! Und deiner?“
„Ich wünschte ich hätte einen!“
„Welchen würdest du wählen?“
„Latein-Amerikanisch“
„Im Englischen oder im Hebräischen?“
Sie grinst und klettert auf einen Straßenpfosten. „Meine Mama kommt aus Uruguai.“
„Ah, si hablas espaniol?“
„Si claro, de donde vienes?“
„De Argentina. Warte, und woher kenn ich dich, du mit den Rollschuhen?“
„Du hast bei unserer WG vorbei geschaut, weil du nach nem Zimmer gesucht hast. Hast du was gefunden?“
„Ne. Aber ich will auch einfach nicht mehr umziehen. Ich bin jetzt einfach Nomadin. Bis morgen um 6, hier am Straßeneck!“

Ich packe meine Sandalen in meinen Beutel, schwing ihn mir auf den Rücken und klettere die Luft-Wurzeln des Fikus hinauf. Dann setzte ich mich in eine kleine Kuhle eines dicken Astes, der einen Knick nach oben macht und von dünnen Wurzeln zu einer Seite bedeckt wird, wie eine Lehne, die sich an meinen Rücken schmiegt. Ich klappe mein Buch auf und versuche mich auf die Geschichte zu konzentrieren. Der Junge in Krähen-Form zerfleischt seinen Vater einer anderen Welt. Nach zwei Seiten klappe ich das Buch zu. Ich schaue den Menschen zu, die unter mir vorbei laufen. Probiere die Kamera aus, die mir ein Freund geschenkt hat. Sie ist leichter als die Analoge, die ich hab. Mal sehn, was bei dem Film raus kommt.

Ich versuche, weiter zu lesen. Doch mein Kopf schweift in alle Richtungen ab. Ich mag den Platz, irgendwie gemütlicher als ein Stuhl, hier tut mir der Rücken nicht weh. Aber ist es mir erlaubt, hier einfach zu sitzen? Und vor mich hinzudenken? Sollte ich nicht all diese freie Zeit nutzen, um „Gutes“ zu tun? Woher kommt überhaupt unser Verständnis für richtig und falsch? Ich schlag das Buch wieder auf. Der Junge, der jetzt keine Krähe mehr ist schaut seiner Mutter als junges Mädchen beim Kochen zu. Eine Katze klettert den Baum auf halbe Höhe hinauf und starrt mich an. Zweimal nimmt sie Position ein, um weiter zu mir hoch zu kommen. Sie hat hell-gelbe Augen und Weiße Flecken auf ihrem schwarzen Fell. „Dich kenn ich doch, du warst hier gestern auch, meine ich.“ Sie starrt mich noch einmal an, dann verschwindet sie aus meinem Blickfeld.  

Ich setze mich um, mit den Beinen in der Luft baumelnd. Vor mir eine dünne Wurzelwand, wie die Lehne eines Stuhls, nach vorne gedreht. Meine Aufmerksamkeit wird von den Vögeln gefangen. Ich fange an ihnen zu antworten, meine Lippen verschieden zu formen und suche nach Tonvariationen. Ich pfeife vor mich hin und schaue erneut auf die Leute unter mir. Ich mache Töne einer Eule. Als ich das in der Schule gelernt habe, meinten alle, es sieht aus als wenn ich einen Blowjob geben würde. Als ich es Aviva gezeigt war, war sie hellauf begeistert. Langsam dämmert es. Das mit dem Buch wird wohl nichts mehr. Ich lege es zur Seite. Die Äste umringen mich. Ich spüre, wie sie einladen, ein Teil dieses Baumes zu werden. Wie sie mich aufnehmen in ihre Welt. Ich bin kein Eindringling mehr. Ich fühle mich zugehörig.

Im Dunkeln laufe ich nach Hause, bewusst jeden Schrittes, klettere auf Mauern, drehe und hüpfe hier und da. Auf unserem Herd steht ein Laptop. Mein Mitbewohner kommt rein, mit meiner Wäsche in der Hand. Er legt sie ab, geht zum Ofen, und holt einen runden Leib Brot heraus. „Der ist für dich.“ Ich umarme ihn.
„Dieser Tag war völlig verrückt! Ich saß auf einem Baum. Und habe nachgedacht!“
„Ach ja? Erzähl!“
„Ich habe eine Mission! Ich will Teil der Erde sein.
Ich hab mich gefragt, woher wir unser Verständnis haben, was erlaubt ist und was nicht. Ich kann mich so schlecht davon lösen, was die Menschen um mich heraum und die Stimmen in meinem Kopf sagen. Andauernd in der Hoffnung und Pflicht, irgendwo dazuzugehören, Gleichdenkende zu finden. Aber weißt du? Dadurch bewege ich mich immer schwebend, in den Kreisen der Menschlichkeit. Ich will mich verbunden fühlen, zu der Erde unter mir, zu dem Ort, an dem ich bin. Ich will Teil von ihr sein, sie kennenlernen und von ihr lernen. Ich will mich auf ihr zu Hause fühlen.