Zuhause?

Ich wache auf von der Hitze. Es ist 9 Uhr morgens und der Bauwagen steht mitten in der Sonne in Tel Aviv. Ich blicke mich um und genieße die neue Ansicht. Die wenigen Klamotten einsortiert, Kulturebeutel ausgeräumt und der Inhalt auf dem kleinen Regal neben der Kompost-Toilette ausgebreitet, die paar Tassen und Schüsseln von Tadita aus Beit Hilel zu dem Geschirr platziert. Ich mache ein Foto für Ayca. Mir wird heiß, also Zeug packen und raus hier. Die Tür geht zu einem abgesperrten Bolzplatz auf. Dahinter ist ein kleiner Park. Dunkelhäutige Menschen trainieren an den Turngeräten oder sitzen auf den Wiesen. Ab und zu kommt jemand mit meiner Hautfarbe vorbei, mit einem Hund an der Leine. Ich lasse die Arme um mich schwengen, Balangsiere auf einem Bein, dehne meine Hüften und rolle mich Wirbel für Wirbel nach oben. Nach ca. 20 Minuten fühle ich mich bereit für den Tag. Ich springe auf mein Fahrrad und fahre in Richtung Markt. Die Straßen sind belebt wie eh und je, doch der Markt strahlt Gemütlichkeit aus. Wo ich mich sonst an den Touristen vorbei drängeln und deutschen Gesprächen ungewollt lauschen muss, ist jetzt freie Bahn. Ich hole mir eine Wassermelone und Loquat, kaufe Basics für meine neue Küche (Tahini, Honig, Hafermilch, Roggenmehl, Gemüse für einen Salat) und mache mich auf den Weg zum Strand. Ich packe mein Zeug unter einen Sonnenschirm und versuche die Melone zu zerbrechen. Sie gleitet mir aus den Händen und die Schale landet im Sand. Die Leute um mich herum scheinen nichts mitzubekommen, also beschließe ich, meine bekannten Methoden über Bord zu werfen und beiße einfach rein. Sie ist zwar nur ein Viertel ihrer vollen Pracht, doch umso mehr ich von der Kante abgegessen habe, umso tiefer muss ich mit meinem Gesicht in das rote Fleisch eintauchen, um den richtigen Winkel zum abbeißen zu finden. Gegen Ende ist mein gesamtes Gesicht voll von rotem Saft. Ich fühl mich tierisch. Etwas unbehaglich und mit gesenktem Kopf gehe ich zum Meer, tauche ein und spüle mein Gesicht mit dem kühlen Wasser ab.

Ganz nah am Strand besuche ich den Menschen, der hoffentlich meine Kameras wieder in Ordnung bringt. Ein paar Blocks weiter gebe ich die Filme, hole mir eine Schaumrolle für meine Faszien, Tropfen für meinen Bauch und düse nach Hause. Mit jeder erledigten Sache, fühle ich mich ein Stück weit geordneter, meine Gesichtszüge werden weich und ich habe das Gefühl, wieder Boden unter den Füßen zu bekommen. Auf dem Weg klatschen mir Fliegen ins Gesicht und in die Augen. Sie versammeln sich auf meinen Beinen und fangen an zu jucken. Als ich nach Hause komme, sind sie verschwunden. Mit Laptop und Notizbuch lege ich mich auf die Wiese und lese für meine Bachelorarbeit. Was bedeutet es seine Identität zu finden, wenn man von mehreren Kulturen umgeben ist? Ich kann nicht anders, als den Text mit meiner Situation zu vergleichen. Nach ein paar Seiten werde ich müde und meinen Augen fangen an zu brennen. Ich lege mich hin, den Laptop unter meinen Beinen und döse weg.

Jemand redet mit mir. Er meint ich solle aufpassen, dass mich keiner beklaut. Ich taste nach meinen Laptop und atme tief durch. Alles da. Ich danke ihm. Er beginnt ein Gespräch, doch ich bin zu müde um darauf einzugehen. Ich drehe mich weg und beschäftige mich mit mir selber. Nach ein paar Minuten sitzt er immer noch da. Sein Hebräisch ist brüchig, er nuschelt und verschluckt die Hälfte der Wörter. Das Gespräch über die unerträgliche Sonne ist bald ausgeschöpft und da ich ihn will nicht die typischste aller Fragen stellen will, weiß ich nicht, was ich sagen soll. Nach einer kurzen Stille mache ich es also trotzdem und erfahre, dass er ein Flüchtling aus Erithrea ist. Er arbeitet auf dem Bau, von daher die Wunde an seiner Oberlippe und an der Schläfe. Seit 14 Jahren lebt er hier. Sein Visa muss er jeden Monat erneuern.  „Es gibt Geld“ meint er, „doch keine Möglichkeit, Einwohner zu werden“. Ich korrigiere ihn bei dem Wort „תעודת הזהות  – Personalausweis“ und merke wie er mir zustimmt, aber nichts an seiner Sprache verändert. Also spreche ich ihn drauf an und bitte ihn, mir genau zuzuhören. Er wiederholt mit Sorgfalt, was ich sage. Seine Augen beginnen zu leuchten. Er folgt meinen Bewegungen zu den Vokabeln und lässt sich vollkommen darauf ein. Er scheint so dankbar, dass es mich zum denken bringt. Wie oft wird er wohl wirklich die Chance gehabt haben, mit so einer Sorgfalt sich der Sprache zu widmen? Von jemandem mit aller Aufmerksamkeit zu lernen, anstatt aufzuschnappen, was auf der Straße oder im Amt für Asylanträge gesprochen wird.

Natürlich bekommt er keinen Sprachkurs oder sonstige Hilfe angeboten, sich zu integrieren. Alles baut darauf auf, das er das Land irgendwann wieder verlässt und hier nur eben Zwischenhalt macht. Als Flüchtling gibt man hier 20 Prozent seines Gehaltes ab, sodass, wenn man zurück in seine Heimat will, eine Reserve angesparrt hat.

Ich frage ihn nach seiner Nummer und biete ihn an, uns morgen zu zum Hebräisch lernen zu treffen. In Gedanken singen wir schon hebräische Lieder und ich bringe ihm all meine brillianten Lern-Techniken bei. Doch schon bei unserer ersten Stunde wächst meine Frustration mit jedem fragenden Blick. Meine Lernwege scheinen ihm völlig fremd. Er wirkt auf mich wie der 14-jährige Junge, der damals sein Land verlassen hat und vor völliger Fremde steht. Ich denke an meine Bachelorarbeit und gebe mir einen Ruck. Na los, sei ein Teil seines Zuhauses!