Flussgeflüster #2

Jeden Tag eine Stunde vor Dämmerung gehe ich an den Fluss. Kruz davor bin ich meistens ziemlich kaputt, fühle mich träge und motivationslos. Die Hitze drückt und die ganze Zeit in klimatisierten Räumen zu verbringen fühlt sich unnatürlich an, wo es draußen doch so schön ist. Wenn’s eben nicht so heiß wär.
Also radel ich die 5 Minuten zum Fluss, suche mir einen Eingang im Zaun (
auch Siedlungen, Dörfer, etc. werden durch Zäune voneinander abgegrenzt) und kühle mich im strömenden Flusswasser ab. Und tatsächlich, die Welt ist wieder in Ordnung.

Meistens gehe ich an die gleiche Stelle. Es ist ein Ort, wo das Wasser tief genug ist für ein Salto und es möglich ist, gegen die Strömung anzuschwimmen und so ein Weilchen im Wasser zu bleiben ohne komplett weggetrieben zu werden. Meistens treffe ich dort irgendjemanden, mit dem/der ich ins Gespräch komme. So wie an jenem Tag, also Noam mich einlädt zum Geschichtsunterricht.

Natürlicherweise beschäftige ich mich schon seit meiner Ankunft mit folgendem Thema: was sind die Unterschiede? zwischen Arabern, die auf jüdischer Seite leben, Arabern in anderen Staaten und Palästinensern? Zwischen religiösen Juden und Israelis, zwischen Muslimen und Arabern, zwischen jenen und solchen („und dann gibt’s noch ganz andere und das sind die Schlimmsten“).

Lektion Nummer 1: Die Herkunft der Israelis. Jede Person, die ich treffe hat Vorfahren aus mind. 2 verschiedenen Ländern. Zum Beispiel hat Noam persische und marrokanische Wurzeln.
Offiziell wird hier unterteilt in die Sephardim (1492 aus Spanien ins Osmanische Reich und Nordwestafrika geflohen) sowie die AshkeNAZI (Bezeichnung der Juden die in Deutschland, Polen, Russland, etc. gelebt haben/ leben).
Mit der großen Migrationswelle 1948 der Ashkenazi, hat sich eine Art Klassenstruktur entwickelt. Zumindest hinter den Kulissen. Bei jeder neuen Migrationswelle von Juden aus verschiedensten Herkunftsländern, mussten sie sich erstmal ihren Status erkämpfen. Die Marokkaner damals, dann die Iraker und Zugehörige der Suuvjetiunion. Derzeit leiden darunter wohl am meisten die Juden aus dem Jemen und Ethiopien, die vom Staat, bzw. von den streng religiösen Menschen nicht mal als echte Juden anerkannt werden…

Da sitzen wir also am Fluss mit unserem Schmierpapier und diesen vielen verwirrenden neuen Namen und Zusammenhängen, und werden von einer Familie überrascht. Die Nachbarn von Noam, bei denen ich letzten geklopft hatte, weil ich sein Haus gesucht hatte und ihre Einladung zum Tee auf ein anderes Mal verschoben habe. Sie kommen mit drei Kindern und einer von ihnen soll heute Schwimmen lernen. Also steht er auf den Steinen am Flussrand, und springt plötzlich mit Sack und Pack, bauch voraus, mit flatternden gespreizten Armen in das eiskalte Wasser und wird davongetrieben. Strampelnd hält er sich über Wasser, die Mutter, ganz entspannt, beobachtet das Geschehen.

Dann taucht Alfredo auf. Ein Argentinier, den ich am Tag davor kennengelernt hatte. Gestern kam das Thema Umweltbewusstsein auf. Er hatte Glyphosphat in Flaschen an Bäumen entdeckt und war entsetzt darüber. Doch wie ich auch schon am Abend zuvor beim Familienessen aus der Diskussion erfahren konnte: Die politische Agenda ist mit anderen Themen bestückt.

Gestern Abend setzte ich mich während den Nachrichten zu Adita und Ranon in ihre Fernsehecke. 4 Terroristen wollen aus dem Gazastreifen nach Israel. Eine Rakete wurde letzte Nacht abgefeuert. Natürlich. Wo bleibt da Raum für Gedanken und Handeln zum Thema Umweltschutz? Aber für einen gebürtigen Argentinier, der die Glyphosphat-Dramatik hautnah mitbekommt, ist es ein herzzerreißendes und brisantes Thema.

Also sitze ich da zwischen diesem bunten Haufen an Menschen und alle sind wir irgendwie in Kontakt. „Nur weil du da bist“ meinte die Mutter der Familie mit einem Lächeln. Und tatsächlich, da ich sie alle kenne, fühle ich mich verantwortlich. Doch eigentlich sind wir alle da, weil wir den Fluss genießen und die Abendstunden die Schönsten sind. Tagsüber gibt es lauter Kajaks mit Touristen und aus einer ruhigen Idylle wird ein Freizeitpart. Noch dazu sind gerade Ferien und laut den Einheimischen Menschen aus Beit-Hilel kommen die ganzen religiösen jüdischen Familien sowie ein Haufen Araber zum Fluss, verbringen den Tag dort, hinterlassen eine jede Menge Müll und ziehen lautstart wieder ab. Die lokalen Menschen verkriechen sich tagsüber in ihre Häuschen und trauen sich erst abends zum Fluss, wenn das Getümmel auffört und wieder Ruhe einkehrt in dem Ort, der ihnen so viel Kraft gibt. Tag für Tag.

Es ist schon fast dunkel und ich sitze auf der Terasse vor meinem Häuschen. Da ist es wieder, das Atmen. Tadita wurschelt im Garten herum und ich frage sie danach. „Komm“ meint sie und wir gehen in Richtung Pekanwald. Wir setzen uns still auf den Boden und schauen nach oben. Auf einem hölzernen Aussichtstürmchen sitzen zwei Eulen. „Sie kümmern sich um die Ratten und Mäuse im Garten. Sie sind zu dritt.“ Als die Eulen uns sehen, flattern sie davon. Aus der Ferne ist jetzt nur noch das Rufen der Koyoten zu hören.