Zakén im Zakán

Die meiste Zeit verbringe ich mit Henk, dem „alten Mann mit Bart“, wie er sich selber schmunzelnd nennt während er seinen Rotbart krault. Mit seinen 40 Jahren ist er gar nicht so alt, doch seine Glieder sind schwer und sein Rücken tut weh. Er ist eine ganz besondere Person für mich, wie ein persönliches Radio, dessem Sender ich so gerne zuhöre. Heute begleitet er mich zur Arbeit und während ich Bäume zuschneide singt er mir Lieder vor. Wir reden über das Leben im Einklang mit der Natur, über Aktivismus, über Wut und Freude, über (Selbst-)Liebe und Witz. Henk übersetzt mir die Liedtexte und erklärt mir Zusammenhänge von Wörtern, ihre Hochzeiten in der Geschichte und ihre implizierte Bedeutung. Mit ihm beginne ich so richtig hebräisch zu lernen. Hamoré ahi tov baolam! Der beste Lehrer der Welt! Aber warum?

Die meisten Israelis, die ich kennengelernt habe, sind nicht sehr geduldig. Sie sind schnell, viel beschäftigt und warten ungern darauf, bis ich in unendlich langsamen Tempo meinen Satz zu Ende formuliert habe. Während ich rede, fangen sie meistens schon an, das nächste Thema anzureißen, beenden meinen Satz oder schweifen mit den Gedanken ab. Obwohl ich bewundert werde für mein Sprachtalent und den Spitznamen „Wortmaschiene“ bekommen habe, reden sie weiter auf englisch. Nur Henk nimmt sich wirklich Zeit. Er erzählt von dem Ursprung des Wortes und in welchem Kontext es benutzt wird. Er lässt mich ausreden, beantwortet meine Fragen prezise und sorgfältig und nutzt sie als Inspiration um mir allerlei Dinge zu erzählen, die mich, ihn oder irgendwen interessieren könnten. So kommen wir auf das Wort Pionier zu sprechen. Erst, als ich erfahre, dass es stark assozitiert wird mit denjenigen, die sich auf Feldern im jetzigen israelsichen Gebiet niedergelassen haben, verstehe ich seine Alltagsrelevanz. Als ich vor ein paar Monaten in Enschde online Vokabeln gelernt habe, habe ich genervt auf „weiter“ geklickt, als Wörter wie Rakete und Wächter vorkamen. Ich wusste nicht, wie viel ich sie noch nutzen würde.

Henk führt fort mit dem Ursprung des Wortes Revolution, welcher mahapech – upside-down ist. Als Binyamin Nitanyahu seine Präsidentschaft anging, wurde das Wort mahapech eingeführt – Umkehrung eingeführt um den radikalen Wandel von einer moderat linken Regierung zu einer nationalistischen Mehrheit zu beschreiben. A pro pro, in 2 Wochen sind Wahlen.
Seinen Geschichten ist zu entnehmen, dass er
eine Zeit lang öffentlich politisch aktiv war und er bringt mir einen Slogen bei, den sie bei Demonstrationen immer gerufen haben: Jehuvim vearavim mesarvim lehiot ohivim.” Jews and arabs refuse to be enemies. So langsam, wie ich das nochsage, würde mir sicher niemand zuhören auf der Demo, aber ich bin froh für die Inhalte, die er für mciha uswählt. Noch dazu erfahre ich, dass Oivei –Feind von dem jiddischen Ausdruck Oiveivoi kommt, was wir im Deutschen als Owei kennen. Wie soll Ich da denn keine Freude am Sprachen lernen bekommen?

Ich freue mich sehr über diesen warmen Kontakt mit Henk, er fühlt sich ehrlich an und als ob wir es beide genießen. Er ist wie ein Bruder für mich. Wir singen zusammen im Mondlicht (Or jareach) und spielen für- und miteinander. Zwischendrin frage ich nach Wörtern, die mir im Kopf herumkreisen. Das Sprache lernen hält mich den ganzen Tag wach, und nicht immer fällt es mir leicht beim Schlafen den Lernprozess zu drosseln.

Aber immerhin. Langsam fängt die Sprache an, greifbar zu werden. Ich verstehe die Logik dahinter und inwiefern sich die Wörter verändern bei verschiedenen Funktion im Satz. Aber ganz ehrlich, es ist immer noch Chaos. Alle Wörter klingen gleich. Das Alphabet hat nur 22 Buchstaben, wovon einige sich klanglich nicht oder nur kaum unterscheiden, da seit dem Neuaufleben der Sprache und ihrer Alltagsnutzung die arabischen Einflüsse in der Aussprache für diese Buchstaben in Vergessenheit geraten sind.

Die zwei Wörter, das ich glaube ich am meisten gehört habe, sind: Rote Ameisen. Wir haben ein kleines Lied darüber geschrieben: nimalim adumot al hamichnasaim scheli. Rote Ameisen auf meiner Hose. Sie sind überall und sie brennen wie Hölle. Egal wo du sitzt, nach ein paar Sekunden beginnt es zu schmerzen auf der Haut. Ich würde so gerne draußen schlafen, aber auch das ist von Feuer geprägt. Also eben doch die mit Klimaanlage belüfteten Räume. Ich hätte nie gedacht, dass ich Klimaanlagen so schätzen lernen würde. Die Hitze im Sommer kann einem echt den Kopf verdrehen. Wenn die Sonne hoch steht, wird plötzlich alles traurig, schwer und müde. Die Motivation ist weg, der Kopf leer.
Das Einzige was hilft ist Wasser. Nach dem Eintauchen und Abkühlen ist die Welt eine andere. Mein amerikanischer Gefährte kannte das Geheimnis nicht und lag ständig mit Kopfschmerzen im Bett.
Als er meinen Tipp ausprobierte, war er mehr als überzeugt. Es ist interessant, mit was für Dingen wir uns auseinander setzen, wenn wir mit solchen Extremen zu tun haben. Ich fange an, sehr bewusst auf mich selber zu hören. Was brauche ich gerade? Essen, Schlaf, Bewegung, Abkühlung? Erst das Grundbedürfnis erfüllen. Dann darf ich etwas „Sinnvolles“ tun. Ich merke, wie ich ein besseres Gespür dafür entwickele, was ich brauche. Seit Wochen bin ich ziemlich glücklich und zufrieden.

 

Letztens wurde ich kurz völlig aus der Bahn geworfen von der ersten Frau, die ihre Bisexualität offen mir gegenüber gezeigt hat, seit ich hier bin. Aber irgendwie habe ich schnell gemerkt, was gerade passiert und konnte mir das holen, was ich brauchte um mich zu beruhigen.

Es ist schön, mich selber zu beobachten, wie ich imer klarer in meinem Bewusstsein und in meinen Bedürfnissen werde und dementsprechend handeln kann. Ich spüre mehr Vertrauen für meine eigenen Ressourcen und Fähigkeiten und verurteile mich weniger für die Dinge, die mir manchmal im Weg zu stehen scheinen. Klar gibt es Momente, in denen ich mich nicht ausbalanciert fühle, doch sie wirken weniger überfordernd und einschnittig. Wie ein Pendel fühl ich mich, das die Extreme zwar kennt, aber nicht mehr so lange dort verweilt und alles nicht ganz so ernst nimmt. Das Leben ist ein Spiel, zitiert Mama immer wieder.

Noch ein kleiner Augenschmaus.