Wenn alles einfach kurz stoppt

Meine Freundin Alaya ist da. Sie ist aus Deutschland gekommen um mich zu besuchen und diesen aufregenden Ort hier kennenzulernen. Was uns rasch auffällt als wir unsere Reisen planen: Die Hälfte ihres Besuchs hier sind Feiertage. Jom Kipur, Shabat und dann Sukot. Keine Busse, keine Geschäfte und alles Leben im Familienkreis. Am Abend vor dem Ruhetag wird alles stillgelegt und das bleibt so bis zum Sonnenuntergang des Folgetages.

Also entscheiden wir uns Jom Kipur in Jerusalem zu verbringen. Da soll noch am meisten los sein, denn dort leben die meisten praktizierenden Jud_innen. Wir kommen bei einem Freundes-Freund unter und ziehen nach dem Abendessen los. Ein ganz seltsames Gefühl, durch die nächtlichen Gassen zu streunern und an jeder Ecke eine kleine Synagoge anzutreffen mit weiß gekleideten Männern drinnen, und Frauen an den Seiten-Eingängen. Der Feiertag besteht aus nicht mehr als 24 Stunden lang zu beten, kein Schlaf und kein Essen. Es soll ein Tag der Härte sein. Während die Männer tief beschäftigt sind, schnappen sich die Kinder Bobbycars und rollen die Hauptstraße runter, denn an diesem Tag gibt es keine Autos. Nirgendswo. Das gilt auch für die Araber , die müssen sich an die Regeln der Staatsreligion halten.

Eine Woche später ist Sukot. Ein Feiertag, an dem alle Familien eine kleine Hütte auf ihrem Balkon oder vor der Tür aufbauen um ihr Leben für eine Woche nach draußen zu verlagern. Also mehr eine Feierwoche. Er soll an die Zeit erinnern, in der die Menschen in der Wüste in einfachen Hütten gewohnt haben, simpel, mit leichtem Dach und nahe zur Erde. Es ist ein Fest der Gemeinschaft. Die Suka ist offen für Gäste. Kinder kommen vorbei und fragen nach Süßem. Es ist ähnlich wie an Halloween, nur dass sie statt gefährlich aussehenden Masken, Kotletten-Löckchen und eine Kipa (Hütchen) tragen. Die Jungs sind eingepackt in eine schwarze Anzughose mit weißem Hemd, die Mädchen ganz in weiß. Sie singen Lieder und erläutern ihren Verwandschaftsgrad mit möglichen Bekannten aus dem Kibbutz.

Ich bin bei Abiya und seiner Familie eingeladen, den einleitenden Feiertag der Woche zu verbringen. Sie nehmen mich mit zu seiner Mutter in ein Kibbutz im Jordanland. Es beginnt, wie auch bei Shabbat, am Abend vor dem eigentlichen Feiertag. Mit dem Untergang der Sonne werden Handys weggepackt, und die Elektrizität wird nicht mehr angerührt. Ab sofort gelten die Feiertagsregeln. Diese Regel lehnt sich an das frühere Verbot an, Feuer zu entzünden – zusammen mit vielen anderen Regeln wurde sie relativ spät nach den originellen Schriften von „einer Gruppe von Weisen“ in der Talmud niedergeschrieben. Doch was im ersten Moment sehr streng klingt und von vielen liberalen verflucht wird, hat für mich in diesem Moment etwas sehr beruhigendes. Denn alle sind einfach nur da. Jetzt zählt einfach nur das gemeinsame Sein. Alles andere kann warten.

Wir setzen uns and den Tisch und Abiya beginnt ein ein Gebet zu sprechen/ singen. Er teilt frisches Brot aus und reicht einen Becher mit Wein rum. Während der Zeremonie ist Stille. Zumindest sowas in der Art. Alle ziehen kommunikative Grimassen und flüstern sich gegenseitig etwas zu, während sie die Gläser verteilen, nach etwas auf der anderen Seite des Tisches fragen und die Sitzordnung klären.
Vor 5 Minuten waren wir noch im Wohnzimmer, lautstark am Unterhalten. Und jetzt bin ich mittendrin in diesem Ritual, von dem ich nicht mal eine wage Vorstellung hatte, wie es aussehen würde.
Es ist wunderbar die Dynamik der Familie mitzuerleben, mit ihren wuselnden Kinder um mich herum, und der coolen Oma. Sie trägt 2-Zentimeter kurzes weißes Haar, hat markant gezeichnete Augenbrauen und vor der Zeremonie trug sie noch ein marrokanisches buntes Kleid.

Ich genieße von der Präsens. Von dem Gemeinsamen. Abiya hatte mich vorgewarnt, mir könne eventuell langweilig werden. An einem solchen Tag gäbe es wirklich nichts zu tun. Aber so geht es mir überhaupt nicht. Es erinnert mich an die Zeit in Argentinien, wo wir uns jeden Sonntag mit der Familie getroffen haben zum gemeinsamen Essen, Karten oder Fußball spielen, quatschen und Mate trinken. Für mich waren das ganz besondere Momente. Denn das waren die Momente, wo ich das Gefühl hatte, eine Familie zu haben. Wo ich einfach dem Geschehen zusehen konnte. Wo alle Zeit hatten. Wo Begegnung stattfand.
Doch ich erinnere mich auch, dass meine kleine Schwester dieses Treffen manchmal mehr als Pflicht anstatt von Genuss wahrgenommen hat. Sie hatte Freunde, die sich trafen und sie konnte nicht dabei sein. Und hier ist es nicht anders. Yuval, der älteste Sohn benutzt in Stille im
dunklen Zimmer sein Handy. Und als ich ihn bitte, einen Anruf zu tätigen, führt er mich ins Nachbarhaus, wo uns niemand sehen oder hören kann. Auch nicht die Nachbarn im Kibbutz.
Ich will recherchieren, wie ich noch heute Abend nach Bethlehem kommen kann. Auf der Karte schien es mir so nah, vielleicht 15 Kilometer. Doch es geht um etwas anderes. Wenn ich aus dem Kibbutz, eine jüdische Siedlung im Jordanland, hinausfahren will um zu einer palästinensischen Stadt zu kommen, muss ich mit mehr als einer Stunde rechnen. Ich muss nämlich erst einen Bus unter israelischem Namen nach Jerusalem nehmen, um dann von dort einen Bus zu nehmen, der von einem Araber gefahren wird. Bethlehem ist Rote Zone für Juden, liegt in der Zone A und ist damit unter Kontrolle der PA (Palästinensische Autorität). Das Problem ist nur, dass es bis zum Sonnenuntergang (ca. 19:00 Uhr) keine öffentlichen israelischen Verkehrsmittel gibt und der letzte arabische Bus von Jerusalem fährt genau um diese Zeit. Die Alternative wäre also ein vergleichsweise teures Taxi von einem palästinensischen Fahrer zu nehmen, der dann außerhalb vom Kibbutz auf mich warten würde.
Viel zu kompliziert! Ich bleibe
hier und fahre am nächsten Tag nach Sonnenuntergang mit dem Auto von Abiya zurück.

Die bergige Landschaft rrund Jerusalem ist auf dem Rückweg nur durch die Lichter der Häuser zu erahnen. Die roten Hausdächer der palästinensischen Siedlungen sind dunkel. Nur die grün beleuchteten Mosheen setzen ein Zeichen.
Ja. Ich war tatsächlich in einer jüdischen Siedlung im besetztem palästinensischen Gebiet. Während mich Yuval gestern durch das Kibbutz geführt hat, habe ich ihn gefragt, wie es denn für ihn sei, seine Oma hier zu besuchen. Er liebe den Ort, denn er habe einen großen Teil seiner Kindheit hier verbracht und er liebe seine Oma, aber er sehe gleichzeitig den Konflikt, den es mit sich bringt, als Juden in Palästina zu leben. Er würde sich wünschen, dass es zwei Länder gäbe (Israel und Palästina) oder dass alle gemeinsam leben könnten. Doch das scheint am heutigen Zeitpunkt noch wie ein Traum. Denn alle jüdischen Siedlungen einfach zu räumen und das Gebiet an die Palästinenser zurück zu geben würde großen Widerstand hervorbringen. Mittlerweile sind diese Gebiete das Zuhause von jemandem. Teilweise sind es die Folgegenerationen, die dort leben und mit der Besetzung des Landes in erster Linie nichts zu tun hatten. Doch wie die Ärzte so schon sagen: „Es ist nicht deine Schuld, dass die Welt ist wie sie ist, es wär nur deine Schuld, wenn sie so bleibt.“ Dass hierfür eine Lösung gefunden werden muss, steht außer Frage. Doch wie komplex die Situation ist, wurde mir nochmal vor Augen geführt.

Abiya sitzt am Steuer und fragt mich, ob ich Angst hätte. Wir hatten gerade über die innere Unruhe der Israelis geredet, dass jederzeit ein neuer Angriff kommen könnte, dass sie jederzeit ihren einzigen sicheren Hafen verlieren könnten. Er wollte wissen, wie ich zu der Migrationspolitik und allgemeinen Situation in Europa stehe, und ob ich Angst hätte, dass auch wir unsere Rechte verlieren könnten, durch die Ankunft von so vielen Menschen mit anderen kulturellen Hintergründen. Meine erste Reaktion ist: „Nein. Denn Angst bringt uns nicht weiter. Wir können die Situation nicht ändern. Menschen fliehen, weil sie keine andere Option sehen/haben. Wir können sie nicht aussperren, nur weil wir das Privileg haben, hier geboren zu sein. Das einzig Mögliche ist, eine Infrastruktur zu kreieren, in der sich Menschen willkommen fühlen und die Chance bekommen, ein Teil der Gesellschaft zu werden. Denn das jahrelange Einsperren der Menschen in Camps macht sie zu Zombies, macht sie wütend und hoffnungslos. Wir brauchen Orte der Verbindung, Möglichkeiten der Kommunikation und des Verständnisses füreinander. Nur dann können wir gemeinsam leben. Meine Angst gilt den Reaktionen der Deutschen, die sich von ihrer Angst leiten lassen, ihren hohen Lebensstandart zu verlieren.“ Klingt für mich erstmal nach dem einzigen Logischen. Doch wie stehe ich zu meinen Rechten als Frau? Denn natürlich sind nicht alle Migrant_innen bereit sich zu integrieren, alle kommen mit einem anderen Bild/ anderer Vorstellung eines Lebens im „Westen“. Israel sei das Land der Immigrantion. 1948 wurde lautstark an alle Juden der Welt verkündet, sie sollen kommen und sich niederlassen im heiligen Land. Sie sollen ein Zuhause haben.

Menschen kamen von überall her und alle sollten willkommen sein. Doch trotzdem herrscht in dem Land Rassismus, oder wie es heute jemand genannt hat: Ethnizismus (Unsere Kultur ist die Beste, alle anderen sind scheiße). Konflikte zwischen Kulturen sei etwas normales. Normal ist die Angst vor dem Anderen, vor dem Unbekannten. Schon immer wurden Kriege deswegen geführt. Und ich meine, das könne sich einfach so ändern?
Abiya leitet den Kurs an der Universität, an dem ich ab nächster Woche teilnehmen werde. Araber und Juden (und diesmal eine Deutsche, vielleicht Pantheistin) kommen zusammen und tauschen sich aus. Er hat den großen Willen, um für Verständigung zu sorgen und Brücken zu bauen zwischen sämtlichen sozialen Gruppen. Doch er weiß auch wie groß die Hürden sind. Ich bin dankbar, neugierig und aufgeregt, meinen gutmütigen aber auch unerfahrenen und wahrscheinlich doch recht naiven Blick auf die Dinge, neu zu erforschen. Und vielleicht ein bisschen besser zu verstehen, was es braucht, um Menschen die Angst vor “dem/der Anderen” zu nehmen.

Hier eine wunderschöne Musik von einem palästinensichen Oud-Spieler: Hewar – Mohsen Subhi