Zeit zum Zahlen.

Lange habe ich den Gedanken, länger zu bleiben, gar nicht erst zugelassen und stattdessen gekämpft mit der Zeit, in der ich noch all die feinen, bitteren, süßen und herben Zutaten des reich bedeckten Tisches kosten möchte. Auch wenn ich vieles schon einmal ausprobiert habe und manches schon Routine geworden ist, scheint anderes noch immer ganz weit weg und fremd. Wenn ich durch die Stadt fahre, bin ich immer noch mit großen Augen unterwegs, und die Entdeckung eines Buchladens mit uruguayanischen Verkäufer und außnahmslos spanischsprachigen Büchern scheint mir noch stets ein Phänomen der Unmöglichkeit, zumindest im Nahen Osten…
Mit Neugierde bin ich in den ersten Monaten hier meinem Umfeld begegnet. Und gleichzeitig einer gewissen Distanz. Jener, die aus dem Wissen heraus entsteht, dass ich bald wieder gehe. Bekanntschaften waren für den Moment und mir hat es nichts ausgemacht, das unwissende Kind zu sein und einfach nur kennenzulernen. Bis zu dem Punkt, an dem sich mein unschuldiger Blick auf die Dinge verändert hat und mein Wortschatz groß genug war um ungewollt Gesprächen auf der Straße zu folgen, um in ernsthafte Konversationen einzutauchen und um mich tatsächlich auszudrücken. Bis zu dem Punkt, als der Gedanke an einen verlängerten Aufenthalt aufkam und alle Bedürfnisse, die ich auf “Wenn ich nach Deutschland zurück komme” geschoben hatte, sich auf das hier und jetzt verlagert haben. Dazu zugehören. Die gleiche Aufmerksamkeit zu bekommen, wie die Menschen, die hier schon ewig leben. Eine Rolle einzunehmen, in der ich mein Wissen und Können teilen sein. In der ich nicht mehr nur mitmache, sondern selber kreiere. Nicht nur kennenlerne, sondern wirklich begegne. Das heißt, wirklich in den Wunschpunsch hineinzutauchen und all seine Geschmäcker wie ein Schwamm aufzusaugen, auch die mir weniger lieben. Mich mit Versicherungen rumzuschlagen, die nicht wie bei uns den Zahnarztbesuch übernehmen und mich erneut auf die Suche nach einer bezahlbaren Wohnung zu machen. Meinem Geld zuzuschauen, wie es wie flüssiges Gold unaufhaltsam aus der Tasche fließt. Über wasserüberflutete Straßenflüsse zu springen, in ewigem Stau zu sitzen und von Bussen an der Haltestelle übersehen zu werden. Mich auf den Wandel der Jahreszeit einzulassen und damit langsam von den Granatäpfeln verabzuschieden und die Augen zu öffnen für die Zitrusfrüchte, die an jeder Ecke wachsen. Es heißt auch, Palestina kennenzulernen, und zu hinterfragen, was als Palestina definiert wird. Mit dem jungen Gastarbeiter im Bus zu reden, der täglich um 4:00 Uhr morgens am Checkpoint steht, um als gelernter Physiotherapeut auf israelischem Gebiet am Bau zu arbeiten. Es heißt, die rosa Brille abzusetzen und gemeinsam mit den Leuten hier die kritische Situation versuchen zu verstehen. Und es heißt auch,  vorsichtig zu sein, mit wem ich was teile und wo ich besser schweige.

Doch bin ich bereit mich diesen Hindernissen und den tiefen Fragen des Lebens zu stellen, ohne dem Halt von Familie und jahrelangen Freundschaften? Weit weg von den Menschen, die all meine Gesichter schon kennen, sie akzeptieren, und mir zeigen, dass sie mich als Ganzes lieben und für mich da sind?

Denn neben den kulturell/ökologisch und soziopolitischen Aspekten, spielt noch eine ganz andere Parallelwelt eine Rolle. Es geht nämlich auch darum, mich zu öffnen und zu zeigen. Mit meinen Erwartungen und Ängsten, dem Bedürfnis and Kontinuität, Wärme, Zuneigung und einem Sinn meiner Existenz. Wo bisher vorallem die selbstbewusste, liebevolle, spontane, wissbegierige und offene Seite von mir im Vordergrund war, merke ich, wie sich die anderen Charaktäre durchboxen und einen Platz suchen. Als wären sie bis jetzt in Deutschland geblieben, und jetzt erst angereist. Plötzlich tauchen sie auf, weniger eingeladen als unerwartet. Es sind Gäste, die ich nicht immer gerne willkommen heiße. Gäste, die mir vielleicht peinlich sind, für die ich mich schäme. Sie sitzen in meinem Wohnzimmer, als würde es ihnen gehören und übertönen mit ihrem Geplapper die Stimmen derer, die sich hier schon eingelebt haben und mit naivem Blick erhofft haben, die Wohnung für sich alleine zu haben.

“There is still so much to see. So many hidden faces. So many hidden beauties, so much hidden pain. Getting to know a few of them, I realize that every answer builds the way to a new question.”

Habe ich den Willen,
die Kraft,
die Liebe
und den Mut,
um diesen Gesichtern zu begegnen?