SPIELRAUM und Warum ich das Chaos liebe

Ich fahre mit der Rolltreppe die HaHagana hinauf, direkt bei der Busstation im Süden von Tel Aviv wo mehrere Hunderte Busse ihren Schlafplatz haben. Nach einer Woche München komme ich nun wieder nach Hause. In die Stadt in der ich meine Vielfalt ein Zuhause hat. Ich spüre die Sonne auf meiner Nase und schließe die Augen. Ich will ans Meer. Mit meinem kleinen Köfferchen mache ich mich auf den Weg zu der Bushaltestelle außerhalb dieses Riesengebäudes. Ich weiß zumindest schon mal die Richtung, auch wenn ich noch nicht unter den 20 Bussen unterscheiden kann, welcher mich an mein Ziel führt. Ich laufe mit großen Augen die mir bekannte und doch noch so fremde Straße entlang und fotografiere in meinem Kopf den Mann, der das 4 Quadratmeter große Zimmer mit Türe auf die Straße komplett ausgräbt und den goldbraunen Sand unter dem Boden enthüllt. Ich denke an Luzi und mache noch ein paar Fotos in Gedanken. In einem Secondhand-Laden hol ich mir eine Jogginghose und ein Streifenkleid, beim Markt nehme ich Maiskolben und einen Gratapfel mit und dann schlendere ich zu der Felsenküste des Mittelmeers.

Ich wasche mein Gesicht mit dem salzigen Wasser, atme tief ein und begreife zum zweiten Mal heute, warum ich noch ein halbes Jahr bleiben will. Ich warte auf die Dämmerung, entferne mich ein wenig von den Menschengrüppchen, die allesamt den Sonnenuntergang betrachten und ziehe mich aus. Dann gehe ich langsam los ins kühle Wasser, bis ich einfach losrenne und gegen die kleinen Wellen trete. Ich tauche unter und beschließe sofort wieder rauszugehen. Doch etwas hält mich drinnen. Ich erinnere mich an das Mal, als ich mit Nitai hier zum ersten Mal nackt schwimmen war und ihm dann über den Markt gefolgt bin, wie er bafuß um die Essensreste herumschlängelt und nach dem besten Preis für seine Lieblingsfrucht sucht. Als ich rausgehe kommt mir eine junge Gestalt entgegen und lächelt. Ich gehe schnell raus und ziehe mich warm an, Mütze auf den Kopf und setze mich auf einen Stein, die letzten Schimmer der roten Farbe am Horizont. Ich singe vor mich hin. Etwas sagt mir, dass ich hierher gehöre. Ein Teil in mir hat hier ein Zuhause gefunden. Ich will nicht mehr überleben mit dem Gedanken, dass es ja nur 5 Monate sind. Ich will hier sein, als würde es für immer anhalten. Die Gestalt steht auf und wünscht mir einen schönen Abend, wieder dieses nette Lächeln. Egal wo man hier ist, man ist nie alleine. Hab ich gehört. Ich denke zurück an das Mal, als ich nicht wusste wohin mit mir und einfach auf’s Fahrrad gestiegen bin und in den Plattenladen, den ich so mcohte. Yaron hat mir einen Stuhl und Tee angeboten und das zweite Album von Idan Raichel gebracht mit der Aussage: „Ich will, dass du dich hier ganz frei fühlst. Hör an was du willst und denke nicht, dass du irgendetwas kaufen musst!“ Also habe ich zum ersten Mal „Ale nisa baruach“ (Das Blatt steigt auf im Wind) und so richtig geweint. Ein ganz fremder Mensch war einfach für mich da.
Mit diesen Gedanken mache ich mich also auf den Weg zum Bus und nach Hause. Noch eine Woche und dann ziehe ich weiter, in den Süden von Tel Aviv, da wo ich heute ausgestiegen bin.

Am nächsten Morgen werde ich von hämmernden Geräuschen gewackt und laufe los. Ich sehe die Stadt als einen einzigen Spielplatz, hüpfe und freue mich an den Pflanzen um mich herum. Ich nehme einen unbekannten Weg und entdecke ein kleines Rinnsal an Bach. Ich laufe weiter, und lass mich von der Schönheit der Orte lenken. Ich habe die Zeit und den Blick der Neuen, die alles entdecken will.

Der Blick ist begleitet von dem Gedanken, dass alles irgendwann ein Ende nimmt. Fragen begleiten mich die folgenden Tage, und ein tiefer warmer Schmerz links im oberen Brustkorb. Wir kommen und gehen. Begegnen und entfremden. Das ganze Leben lang bereiten wir uns vor auf den Abschied, der uns in eine andere Welt oder Körper, unter die kalte Erde oder als Asche in den Wind führt. Ich erinnere mich an Maya die mir erzählte, wie sich ihr Herz ganz langsam schloss. Immer und immer wieder öffnete sie es, hier Menschen willkommen und genoss den gemeinsamen Moment bis es wieder sein Ende nahm und die nicht mehr allzu fremden Menschen weiterzogen. Ein Teil von mir sucht nach Beständigkeit und nach offenem Raum und Zeit. Will sich binden and Menschen und einen Ort, an dem wir gemeinsam etwas entstehen lassen.

Nitai hilft mir meine Sachen ins Auto zu packen und wir fahren in meine neue Wohnung. Ein kleines Häuschen, mit einer Art grünen Vorhang und orangefarbenen Trompeten-Blumen, mit Metalltreppe zu einem schmalen Balkon mit der Eingangstür. Wir packen das Zeug in eine Ecke und fahren den kurzen Weg zur Tanzschule. Im Vorraum der Kwutza, wo die Sofas stehen mit der Küchenzeile, begrüßt mich meine einzig deutsche Bekannte in Tel Aviv. Ich freue mich sie zu sehen.

Während ich mit dem Rücken auf dem Boden und den gespreizten Beinen an der Wand daliege, kuschelt sich Yoni an mich. Er bittet mich um Entschuldigung, abgetaucht zu sein. Ich erinnere mich an die einsamen letzten Tage nach der Zeit in München, die voll von Menschen und Nähe, Zuneigung und Geschichte war. Jetzt freue ich mich eigentlich nur, dass er da ist. Ein Mensch, bei dem ich zu Hause bin und meinen Schmerz sowie meine Freude teilen kann.

Dann geht es los. Auch hier kommen Gestalten und gehen. Wir lernen uns kennen, berühren uns, bewegen uns gemeinsam und nehmen irgendwann wieder Abschied. Ich merke, dass ich nicht ganz da bin. Dass mein Blick in die Weite führt. Ich gehe in den Vorraum und setze mich zu meinem Mitbewohner auf die Couch und höre einem Gespräch zu. Die Person neben ihm sieht warm aus. Sie bietet mir eine Massage an und ihre Berührung tut mir gut. Sie erinnert mich, nach dem zu suchen, wo sich mein Herz gehalten fühlt.

Die Tänze verändern sich, die Begegnungen werden intensiver und es ist eine Spur von Witz in der Luft. Und bei jeder Begegnung fühle ich nach, ob ich mich verbunden fühle, was mir gefällt und gut tut und wann ich wieder weiterziehen will. Kurz vor Ende laufe ich in eine leere Ecke und tanze für mich alleine. Es läuft leichte Musik, vielleicht aus einem Film mit Happy Ending. Ich drehe mich und springe und lasse mich von meinem Körper führen. Mir rollt ein kleiner Schaumstoffball vor die Füße und der Spaß beginnt. Mit meinem ersten Tanzpartner des Abends renne ich wild herum und wir powern uns so richtig aus. Ich tanze und spiele und rufe und lache und irgendwie ist plötzlich Raum für alles da. Die Musik verändert sich zu arabischem Pop und alle tanzen einfach so, etwas Gangster, etwas orientalisch. Wow. Erschöpft verlasse ich den Raum, wasche mein Gesicht, trinke etwas und verabrede mich mit dem Fußballer zum Klezmer spielen. Ich bin richtig glücklich, hier zu sein.

Am nächsten Tag zeige ich Yoni mein neues Haus. Wir klettern über die Leiter auf’s Dach und ich blicke über die Dächer meines neuen Viertels. Das erste Mal, das ich durch diese Gassen gelaufen bin, hat mir Eden die gut-richenden Blumen gezeigt. Hier ist einer der Teile der Stadt, wo noch sichtbar ist, dass wir nicht in Zentraleuropa sind und die Gentrifizierung noch nicht Überhand genommen hat. Vielleicht dank den vielen Geflüchteten aus Äthiopen und Eritrea, die hier wohnen. Die Häuser sind klein mit Flachdächern, eng nebeneinander. Zwischendrin tauchen Sträucher, Bäume und Wäscheleinen auf. Die Läden sind klein und vollgepackt und jede Ecke bringt eine Überraschung. Ich mache mich auf den Weg zum Markt um für Shabbat einzukaufen. Es ist ein Markt mit Dach, links und rechts sind Stände mit den immer wiederkehrenden Lebensmitteln und zu den Seiten gehen kleine Gassen ab. Ich wähle einen mir unbekannten Eingang und mir steigt der kalte Geruch von rohem Fleisch in die Nase, gemischt mit Chlor.

Mit schnellen Schritten nähere versuche ich die Gasse hinter mir zu lassen. Meine Aufmerksamkeit richtet sich auf die Musik. An einer Ecke wird gefeiert, tausend Servietten bedecken den Boden, Leute essen und tanzen und rufen laut. Ich suche den Weg zurück zur Hauptstraße um Kakis/Sharon für meinen Mitbewohner zu kaufen. „Es gibt keine, aber du kannst mich haben“ erwidert mir ein Verkäufer. Ich beschließe niemals bei ihm zu kaufen. Mit einem Karton voll von Spinat und Sellerie, Süßkartoffeln und Erdbeeren, mache ich mich auf den Weg nach Hause.

Ganz besonders ein Gefühl begleitet mich. Ich weiß, dass es richtig ist hier zu sein. Ich habe mich dafür entschieden, der Vielfalt an Gefühlen und Menschen und Teilen der Stadt zu begegnen und die romantische Kenn-Lern-Phase hinter mir zu lassen. Ich weiß, dass die Zeit nicht einfach wird, dass ich Dingen begegnen werde, die ich vielleicht lieber nicht sehen möchte und dass mein inneres Chaos nach seinem tiefen Winterschlaf vielleicht wieder geweckt wird. Aber das ist okey. Irgendwie freue ich mich sogar drauf.