Ein Tag im Kibbutz

Als Abschluss zu unserem kurzen Zusammenwohnen fahre ich nach dem Umzug mit Nitai in sein Kibbutz (sozialistische landwirtschaftlich betriebene Siedlung) eine Stunde südlich von Tel Aviv. Wir kommen ein wenig verspätet ins gemeinschaftliche Esszimmer, wo seine Eltern und ein paar andere Familien schon am Essen sind. Dass der Essensraum heutzutage im Kibbutz noch genutzt gibt, ist eher raar. Nicht zum ersten Mal sehe ich in den Gebäuden der Ashkenazi (Die Juden, die aus Europa, Russland und Amerika kamen) die dunklen glänzenden Hölzer und die beigen Farben, die mich an die Wohnung von meinem österreichischen Opa errinnert. Etwas altmodisch könnte man sagen und irgendwie unnahbar.
Wir waschen uns die Hände und ich stutze. Ich finde nicht den üblichen Becher mit zwei Henkeln, den ich sonst aus jüdischen Einrichtungen kenne. Nitai erklärt mir, dass die Leute in den Kibbutzim nicht religiös sind. Ich bin etwas verwirrt und versuche es einzuordnen in meine Israel-Schachteln im Kopf. Wir füllen unsere Teller am Buffet und es wird auf eine Liste geschrieben, was wir essen. Im Nachhinein wird das, zusammen mit allem Service, den Nitais Familie nutzt, abgeglichen mit ihrem Einkommen, welches direkt weitergereicht wird an das Kibbutz. Wir setzen uns zu Nitais Eltern und deren Freunden. Irgendwie passend zu der Einrichtung sind die Themen, über die wir reden. Im Aufenthaltsraum, wo jeder noch einen Kaffee oder ein Stück Kuchen zu sich nimmt, spreche  mein Unverständnis an. Warum wollten die zionistischen Juden denn unbedingt ins „heilige Land“, wenn sie doch gar nicht religiös waren? Also erklärt mir Nitais Mutter, dass die orthodoxen Juden sogar gegen ein eigenes Lang sind, bevor nicht der Messias kommt und das Land offiziell den Juden übergibt. Sie erklärt auch, dass Herzl in der zionistischen Bewegung damals mehrere Länder als mögliche Anlaufstellen für die Juden ausgesucht hatte und es auch mehrere Versuche gegeben hatte, sich dort anzusiedeln, doch hat es eben nie geklappt. Dadurch, dass in Palästina schon einige Juden aus den vergangenen Jahrzehnten, wenn nicht noch weiter zurück, ihre Siedlungen aufgebaut hatten, gab es hier zumindest schon eine Basis. Ich frage sie also über die Siedler in den Territorries und sie erklärt mir, dass ihr Zionismus einen anderen Hintergrund hat. Sie sind eigentlich alle religiös und sehen ihre Rolle als sehr wichtig an, weitere Gebiete des heiligen Landes einzuholen. Genau diese Siedlungen sollen nach Trumps „Friedens-Deal“ zu israelischem Gebiet zählen. Eine Lösung, die mit niemandem abgesprochen ist, den es eigentlich betrifft. Auf den Tisch geklatscht, ohne die 70 Jahre Konflikt nachzuvollziehen. Es wirkt, als wäre es alles einfach nur ein Spiel für ihn und um ins nächste Level zu gerten, muss er eben mal schnell für Frieden sorgen.

Abends besuchen wir Freunde von Nitai. Alle 10 Minuten kommt ein neues Pärchen an und wir machen den Kreis größer, damit sie noch mit rein passen. Die Männer auf der einen Seite, die Frauen auf der anderen. Kann auch Zufall sein…
Alle bringen sie eine Packung Kekse/ Chips oder ähnliches mit. Eine(r) öffnet sie, und dann wird sie im Kreis herum gereicht, so lange bis sie leer ist. Es gibt Minztee und Popcorn. Nitai und ich lehnen höflich ab. In der Mitte ist ein Ofen und immer wieder kommt einer der Hunde zu mir und lässt sich streicheln. Die Athmosphäre ist unbeschwert und ich kann mich für einige Zeit drauf einlassen und mitlachen, bis mir irgendwann langweilig und kalt wird und ich mich freue, nach Hause zu fahren.

Nach einem Frühstücks-Tee, einer Laptop-Session und ein paar Früchten und Nüssen machen wir uns auf den Weg zum Strand. Im Gestrüpp an den Seiten finden wir wilden Spargel um so weiter wir die Dünen hineinstapfen, umso mehr Gepäck lassen wir hinter uns unter Sträuchern oder Bäumen. Der Ort erinnert mich an die Atlantikküste in Portugal oder Holland. Zwischen den Dünen wachsen grüne Büsche, manchmal kommt eine Palme hervor. Wir rennen den Sand hoch und runter, klettern auf einen Baum, hören einen kurzen Knaller und genießen die Schönheit des Ortes. Der Wind bläst Sand in die Augen und erfrischt das Gemüt.

Als der Strand beginnt, verändert sich der Sand unter meinen Füßen. Es kommen Farben dazu, Glasscherben, zerfetzte Nylon-Tüten, Muscheln, Stöcke, Dosen, Plastikflaschen. Wir haben Glück, ab und zu kommt die Sonne raus. Nachdem wir uns von den starken Wellen ein paar mal überspülen lassen stelle ich mich mit dem Handtuch um die Schultern gegen den Wind. Vor mir die Wellen, hinter mir der Strand, nördlich eine Fabrik mit 3 hart arbeitenden Schornsteinen und südlich die Siluhette van Gaza.
Nitai will mir unbedingt noch einen zweiten Wasser-Platz zeigen. Mit den Winterjacken in der Hand laufen wir dorthin. Es ist ein kalter, etwas bräunlicher Fluss, der die Haut unter Wasser gelb-grün schimmern lässt. Die Sonne scheint und schenkt uns einen Moment von Sommer und Feriengefühl. Als wir wieder rausgehen finde ich eine Feuerstelle, bei der ein paat grau-schwarze Kohlestücke liegen und darauf ein halb abgeschmorrter hellgelber Plastikteller. Es haben sich zwei Löcher eingebrannt, die den Teller zu einem Totenschädel machen. Dunkle Zweige liegen drum herum.

Wir kommen zurück ins Kibbutz und machen uns einen richtig großen Salat. Nitais Eltern setzen sich zu uns und ich verstehe zum ersten Mal, was es bedeutet einen Demenz kranken Menschen zu pflegen und um sich herum zu haben. Wie ein Kind wird er von seiner Frau zurechtgewiesen, zur Toilette gebracht und an der Hand genommen. Mir tut es weh, ihn zu sehen. Unglaublich weh.

Ein zweites Mal machen wir uns auf den Weg. Nitai zeigt mir seine Lieblingsaussicht. Dafür klettern wir auf das Hausdach, das früher mal einer reichen arabischen Familie gehört hat. Wir sehen die Wachtürme und die Mauer, die uns vom Gaza-Streifen trennt. Die Sonne bricht durch die dunkel umrahmten Wolken und fällt mit dicken gebrochenen Strahlen auf das Wasser.

Wir gehen weiter und stoßen auf meinen Lieblingsbaum, den Fikus. Die Fäden, die aus den dicken Ästen nach unten wachsen, bilden Seile, an denen wir uns hochziehen. Von dort aus sehen wir, dass er in Partnerschaft lebt, denn auf der anderen Seite kommt ein zweiter Baum zum Vorstein, mit dessen Stamm er verwachsen ist. Sein Partner trägt eine dicke bröckelige Rinde morsche Ast-Ansätze.
Auf dem Weg zurück kommen wir an dem Baum vorbei, der eine ungenießbare Orangenart als Frucht trägt. Es ist der Baum, dessen kräftiger Stamm im Landbau genutzt wird, um die Basis für einen anderen Fruchtbaum zu bilden. Ich erinnere mich an die, mit Alufolie bedeckten Bäume im Norden nähe unserer Mangofarm. Nitai wirft die verschrumpelte Frucht weg und wir gehen nach Hause.

Es wird Abend und Shabbat nimmt sein Ende an. Nitai bringt mich zum gelben großen Tor, dass das Kibbutz vom Rest der Welt trennt.  Wir warten dort ein paar Minuten, bis ein Truck mit zwei jungen Bauern anhält und mich mitnimmt in Richtung Norden.

Ich gehe ein letztes Mal in meine alte Wohnung, bringe in Ordnung, was noch irgendwie in Ordnung zu bringen ist und schließe die Tür hinter mir. Das Treppenhaus vor mir, mit dem offenen Teil für den neuen Lift und dem staubigen Boden, ist durchnässt von dem Wasser, das aus den Löchern im Dach tropft. Ich mache einen großen Schritt über die Pfütze und spüre einfach nur Erleichterung.
Ich steige auf mein Fahrrad. Der Regen hat die Straßen der Ohne-Gulli-Stadt überflutet und meine Jacke bekommt einen senkrechten Streifen am Rücken. Lichter umrahmen die Hochhäuser und lassen sie herausstechen aus dem blickdichten Grau. Ich fahre in mein neues Zuhause, stecke meine nassen Klamotten in die Waschmaschiene, wasche das Geschirr und freue mich daran, dass etwas neues beginnt.