Greifbar

Eine Nachbarin singt und schimpft mit kräftiger Stimme zu den Göttern. Schräg gegenüber trinkt ein Nachbar seinen Kaffee auf einem einsamen Stuhl, den er auf die Straße vor sein Haus gestellt hat. Ich sitze unter Nons Fenster vor dem Haus, da wo ich immer hingehe, wenn ich etwas Ruhe brauche. Es gefällt mir hier, in der sonnigen staubigen kleinen Gasse, die ab und zu von Fahrzeugen durchqueert wird. Ein Wasserstrahl läuft durch die kleine Rinne in der Mitte der Straße, Spühl-Schaum an der Oberfläche. Ein älterer Mann kommt vorbei und meint, ich solle mir doch ein Kissen holen. Er hört meine Musik und erzählt mir von seiner türkischen Herrkunft. Damals war er in einer jüdischen Gemeinschaft, in einer jüdischen Schule und hatte kaum türkische Freunde. Jetzt lebt er hier seit 30 Jahren und spricht mit Nachbarn aus aller Welt. Ich freue mich über seine Geschichte.

Die letzten Tage habe ich mich gefragt, worüber ich überhaupt erzählen sollte, wenn wir doch eh alle das selbe erleben. Sitzen zuhause und versuchen, die neuen Herausforderungen zu verstehen. Doch gestern Abend wurde ich von Maya Angelou an den Wert der Poesie und der imaginären Berührung erinnert. Der Klang und der Rhythmus ihrer Gedichte hat mir eine sonderbare Ruhe geschenkt. Das Zischen der Konsonanten lässt mich erleben, auch wenn ich im halbdunklen auf dem kalten Küchenboden sitze und den Sinn der Worte nicht verstehe.

Unsere Augen für Schönheit sind manchmal wie altes Spielzeug ganz hinten im Kellerschrank vergessen. Von Spinnenweben bedeckt; davor die schweren Werkzeuge und Lexika, die fein säuberlich und übersichtlich im Regal einsortiert sind und an die Aufgaben des Alltages erinnern. Also erzähle ich. Was mich berührt. Was ich sehe und höre. Rieche und schmecke.

Jeden Morgen schnappe ich mir meinen Mitbewohner Non um eine Runde im Viertel zu drehen. Wir laufen durch die Straßen von Shapira, klettern an Zäunen hoch und pflücken die vergessenen Zitronen. Wir sammeln Holz und Blätter für neue Blumenkästen und Non zeigt mit das älteste, rot geschrichene Haus eines damaligen Scheiches, noch vor der Unabhängigkeit 1948. „Lauf für mich mit“ ruft mir eine Frau im Rollstuhl zu, nachdem ich sie lachend grüße.
Im Vergleich zu dem Viertel HaTikva (Die Hoffnung), in dem ich noch vor 2 Wochen gewohnt habe, wirken die Häuser hier wie Villen. Es ist nur ein paar Straßen weiter, einmal über die Autobahn und vorbei am misterieusen dunklen Busbahnhof, der wie eine illegale Shoppingmall aussieht. Auch hier sind wir im Süden Tel Avivs, der bekannt ist für seine ärmere Schicht der Bevölkerung und vor dem ich von so manchem schon gewarnt wurde. Dunkle Haut und Krause-Haar ist hier durch sämtliche Flüchtlinge aus nord-ost-afrikanischen Staaten vertreten. Und daneben die alternative Szene und die mir bekannten Aktivisten, die sich hier weit mehr zuhause fühlen als zwischen den Hochbauten des schicken Norden Tel Avivs.

Gemeinsam mit Aviva und Zuf gehe ich durch die Blumenfelder auf dem versteckten Friedhof der muslimischen Soldaten, die Israel unterstützten und daher mit den anderen Arabern die Gräber nicht teilen (dürfen). Für Zuf ist es wie ein Labyrinth, die Gräser wachsen ihr bis zu den dunklen Locken. Ihr gelber Regenmantel hat die selbe Farbe wie das dichte Blumenfeld. Mit ihren 5 Jahren hat sie den besten Blick auf das Leben zwischen den Blättern und Sträuchern, sieht die kleinen Tiere auf dem Boden und spürt die Zweige ihre Arme streichen. Wir streunern wir durch die Pfade und ich lerne über einheimische Pflanzen und Vogelgesänge. Cleo kann sie alle unterscheiden, so wie es die Kinder meines Großvaters damals auch gelernt hatten. Das meiste Wissen ist nicht durchgesickert bis zu meiner Generation und daher der Durst groß.

Neben diesen Momenten der Idylle, gibt es Tränen, Wut, und Explosionen aufgestauter Energie. Die Kleine darf ihren Halb-Vater nicht berühren, sondern nur auf Abstand sehen. Sie kann nicht mit anderen Kindern spielen und muss ihre Freude, ihr Lachen, ihr Spiel und ihre Umarmungen auf die 3 sogenannt „erwachsenen“ Menschen reduzieren, mit denen sie hier zusammen lebt. Der Radius ist ein Haus mit zweieinhalb Zimmern und kleinem Hof mit Blumen und Kräutern. Außerdem haben wir die Straße zum Nachbarschafts-Fußballplatz und Zirkuszelt ernannt. Jeden Tag kommen neue Spiele auf, es werden Schatten-Planen und Blumenkästen gebaut, Jonglagebälle gebastelt, Pferde eines unfreundlichen Besitzers gefüttert und Gerüche geraten. Ich werde zur Fußballtrainerin, zum Trampolin, zur gefräßigen Katze und zur Speise des Löwen, die von den Wellen seines durstlöschenden Trankes überschwemmt wird. Die Kreativität wird verdoppelt und die Scham halbiert. Was zählt ist, dass wir es uns hier so angenehm wie möglich gestalten und füreinander da sind, auch wenn sich alles so abstrakt und unwirklich anfühlt. Und wenn ich ehrlich bin, ich lerne und spiele und erlebe und bin dankbar, dass ich irgendwo mithelfen kann.

Die Reichweite meiner Handlungen fühlt sich beschränkt an. Mein Blick zentriert im Greifbaren. In den Farben der Blumen, in den Liebesritualen der Tauben. Greifbar sind die Begegnungen mit meinen Nachbarn, die Berührungen meiner Freunde im Haus, und die Telefonate mit meinen geliebten Menschen über See. Greifbar sind die Momente, in denen wir unter unserem neuen Tuch-Dach sitzen und Salbei Tee trinken. Es ist dunkel und über uns knurrt und miaut es. Es ist Frühling und die Kater streifen über die Dächer und kämpfen um ihr Revier. Ich bin müde und geh schlafen.

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