Können die Toten mich hören?

Wir sitzen zwischen den steinigen Quaderförmigen Gräbern des vergessenen Friedhofs, in dem die Harziot langsam anfangen zu trocknen. Ihre gelb braunen Köpfe umringen die unseren. In dem Schatten eines Baumes erzählt mir Non von seinem Leben. Zehn Jahre hat er gebraucht, um nach dem „nur“ zehn-monatigen Wehrdienst wieder klarzukommen. Er ist nicht der Einzige, der mir erzählt, sich komplett zerbrochen zu fühlen danach. Mit 30 hat seine Familie die letzten fehlenden Hausarbeiten für die mit 18 abgebrochene Schule abgegeben, sodass er doch noch studieren kann. Jetzt ist er Anwalt und kümmert sich um Tierrechte, verteidigt Aktivisten, Geflüchtete und Migranten. In den letzten Tagen hat er mir immer wieder Links von Filmen und Artikeln geschickt, die über Situation Palestinas aufklären, die Konditionen in den besetzten Gebieten aufzeigen oder wie im Falle Bilins dokumentieren, wie sich der 8-monatigen Kampf gegen den Mauerbau und die damit einhergehende brutale militärische Enteignung der Einheimischen ihrer Grundbesitze und Olivenbaumfelder entfaltet hat. Er erzählt von der politischen Abhängigkeit der Linken sowie auch der Rechten von den Ultra-Orthodoxen um eine Mehrheit zu bilden und von der Sonderheit dass seit einem halben Jahr keine neue Regierung gebildet wird und dementsprechend weiterhin die regieren, die auch davor an der Macht waren.

Während er mir so erzählt, schreibe ich in meinem Heft die neuen Wörter mit und er erklärt mir die grammatikalischen Details und Zusammenhänge der Wörter und diktiert mit zynsichem Unterton patriarchistisch/ zionistische Gedanken:

„Ich werde niemals den Palästinensern vergeben, dass sie uns dazu bringen ihnen so etwas anzutun.“

„Bis sie nicht ihre Kinder lehren, das Leben zu lieben anstatt uns zu hassen, wird es keinen Frieden geben“

Als wir über die gescheiterten vermeintlichen Versuche von Friedenspakten sprechen, zitiert er:

„Die Palästinenser verpassen nicht eine Möglichkeit, ihre Möglichkeiten zu verpassen.“

Eine Anschuldigung gegenüber den Palästinensern auf ihre Verweigerung hin, die 22 Prozent ihrer übrig gebliebenen Gebiete, auch noch zu teilen. Non meint, es wird überhaupt nicht versucht, Frieden zu schaffen. Wenn die Zionisten es wirklich wollten, dann würden sie nicht immer weitere Teile der Westbank besiedeln. Abgesehen von den ökonomischen Profiten, die sie aus den Testungen der neuen Sicherheitssytseme und Abwehrmechanismen ziehen, würde Israel in ihrem zionistischen Kampf um die gesamten Gebiete des heiligen Landes unter anderem auch von  amerikanischen Evalgelisten unterstützt werden, dessen Sieg den Messias bringen soll.

Nach ungefähr zwei Stunden entschuldigt sich Non für seine Faselei. Dabei mag ich es. Er ist lustig und ich merke, dass es ihn bewegt. Ich höre ihm gerne zu. Mit meinem neugierigen fragenden Blick lade ich ihn ein zu erzählen.

Dann will auch ich ihm einen Gedanken mitteilen. Gestern, nachdem ich wieder einmal auf den Friedhof zum Üben gegangen bin war ich kurz enttäuscht von mir selbst. Ich hatte nicht wirklich an meiner Technik gearbeitet sondern stattdessen mich im Klang von Harmonien gebadet, mit Doppelgriffen und Gesang darüber. Es war einer jener Momente, in denen ich mich nach dem gemeinsamen Spiel sehne, nach einer tragenden Begleitung, die mir ermöglicht einzutauchen ins Gefühl und loszulassen. Und genau das war der Punkt, wieso ich kurz darauf dankbar wurde. Denn genau das, ist eigentlich so wunderschön. Ich kenne nicht nur eine Form des Übens. Ich kann damit spielen, experimentieren und jedem Tag mit einer anderen Herangehensweise begegnen. Machmal brauche ich Struktur und Detail um mich zu erden, manchmal will ich die Seele baumeln lassen, mein ganzes Herz mit rein geben und einfach frei dem folgen, wohin mich meine Geige führt. Manchmal bin ich in einem geschlossenen Raum, mit Notenständer und Metronom, und manchmal draußen in der Natur und erinnere mich an Übungen oder denke mir welche aus. Es gibt Tage, da will ich einfach Musik hören und lesen ohne selber zu spielen, oder ich will sitzen und einfach mit Volksliedern mitspielen und es gibt Tage, da will ich aktiv sein, hart arbeiten an einem klassischen Werk und die Geige herausfordern.

Und auf Nons Faselei bezogen: Balance heißt für mich nicht unbedingt Gleichheit sondern was zählt ist unsere Begegnung. Auch wenn das heißt, dass ich heute wenig spiele, sondern mit Kopfhörern durch die Straßen laufen und aufmerksam Musik analysiere. Auch wenn das heißt, dass ich heute kaum etwas sage, sondern ihm einfach nur zuhöre. Es geht nicht um exakte Verhältnismäßigkeit, nicht ums Abwiegen. Balance ist für mich eine Bewegung zwischen Gegensätzen, die sich gegenseitig ablösen, sich begegnen, aufeinander aufbauen, miteinander spielen. Auf und ab, vor und zurück, Erleben und Verstehen, Wahrnehmen und Kreieren, lehren und Lernen. Wie das Wasser am Meer de Steine, Muscheln und Sand überflutet, zurückebbt und sie dann wieder entblöst. Manchmal kommt eine große Welle, die sich leicht zurück lehnt bevor die nächste sie überholt und manchmal ist es ganz ruhig und nur ein schüchternes Rauschen ist von einzelnem Schwappen wahrzunehmen. Manchmal ist das Wasser wild und gefählich, und manchmal so sanft und weich, dass man seine unendlichen Tiefen vergisst.