In der Musik #3

Mit Mahmad gehen wir durch die Straßen der Altstadt Jerusalems. An einem Vorplatz einer Kirche setzen wir uns auf die Stufen und packen die Instrumente aus. Ein Mann setzt sich mit einem Stuhl schräg hinter uns. Frauen mit Kopftüchern und  langen Kleidern laufen vorbei, Arbeiter, Kinder… Sie filmen und machen Selfies. Als Mahmad ein palästinensiches Lied A Capella singt, bleiben plötzlich alle stehen. Für einen Moment wird ruhig auf dem Platz, ein paar Sekunden ist alle Aufmerksamkeit nur auf ihm. Die Oud kommt dazu und alles geht seinen gewonten Gang.

Eine Digeridoo-Verkäuferin hört uns und setzt sich dazu. Sie erzählt uns von DEM Musikladen in der Altstadt. Wir folgen ihr zu ihrem Händler und während ich mir die Ouds durchschaue, fangen die anderen an, in der engen Gasse persische, türkische und arabsiche Lieder zu spielen. Der Verkäufer neben an singt mit und filmt sie.

Ich blicke die Oud an und schaue ins Leere. Wie eine Neubauwohnung wirkt sie kahl und ohne Geschichte. Schöne Architektur, frisch gestrichene Wände und wohlgeformte Rahmen. Aber ohne Möbel. Will ich aus dem Koffer leben, bis endlich der Schrank ankommt? Will ich diejenige sein, die die Teppiche auslegt, Bilder aufhängt, Pflanzen bringt, der Wohnung Farbe schenkt?
Was passiert, wenn ich die Oud kennenlerne, warmspiele? Kann ich ihr den Klang entlocken, den ich mir wünsche?

Nach einer Stunde hin und her entscheide ich mich die Oud zu kaufen. Natürlich habe ich nicht genug Geld dabei und meine digitalen Wege sind versperrt. Also verlassen wir den Laden ohne Oud und ich folge den anderen mit schlechtem Gewissen.

Roni läuft neben mir. „Ich find es gut, dass du nicht einfach kaufst.“

Wir kommen an einem Geldautomaten vorbei. Die anderen ziehen weiter, Roni lächelt mich an und stellt sich wartend, mit der Gitarre im Arm hin. Während ich Geld abhebe spüre ich ihre Abwesenheit, ich drehe mich um und sehe wie sie aus einem versteckten Winkel in meine Richtung blickt, mich annickt und irgendwo hineingeht. Ich beende meine Transaktion und gehe zum Nebenhaus. Durch die Glastüre sehe ich Roni mit zwei Damen sprechen. Eine von ihnen kommt auf mich zu und öffnet mir. Ich trete in eine Galerie, mein Blick direkt auf den roten Baum gerichtet. Hinter ihm ein türkiesener Hintergrund, der den Weg aus dem Bild hinaus antont. Echt fühlt es sich an. Als wären die extremen Farben, die verschwommenen, unfertigen Formgebungen das Abbild einer Landschaftsszenerie der natürlichsten Form. Meine Zweifel verwehen, meine Fragen lösen sich auf. Ich bin plötzlich ganz klar.

Es gibt nur einen Ausstellungsraum. Er ist gefüllt von dem Werk einer Künstlerin, die vor ihrer Immigration ihre Vorstellung von dem Land aufgemalt hat. Ich lächele. Den ganzen Tag über habe ich das Gefühl gehabt, irgendeiner Vorstellung in meinem Kopf hinterherzulaufen, habe mich wie das 13-jährige Mädchen gefühlt, das in Amsterdam von einem Touristenshop zum nächsten läuft um genau den richtigen Pulli zu finden und am Ende müde und frustriert, ohne Pulli, nach Hause geht. Oud kaufen, hin oder her, erscheint mir plötzlich völlig unwichtig. All die Mühen, etwas zu kreieren, das noch nicht ist, gebe ich auf. Irgendwann werde ich der Oud begegnen, die mich begleiten soll.
„Danke, dass du mit mir gewartet hast, Roni!“
– „Ich wollte einfach mit dir sein.“

Wir treffen die anderen und suchen uns einen Platz zum spielen. Er sitzt uns gegenüber, etwa auf 5 Metern Abstand, auf einer Steinbank. Er trägt ein weißes Hemd, Anzughose und eine dunkle Kipa auf dem Kopf. Sein Name ist Abraham, so wie Shelmas Vater. Auch er ist Teil der Breslov-Hasidim-Gruppe.

Vor ihm hat er eine Matte ausgebreitet, mit Bausteinen darauf und anderen Spielsachen. Sein Sohn kommt auf uns zu und wirft eine Münze in den Gitarrenkoffer. Ich erinnere mich an den Moment gestern, wie Abraham, Moshe ganz fest in den Armen hielt und mit geschlossenen Augen dem türkischen Sufi-Lied „Adimiz“ wiegend lauschte. Etwas ist besonders an ihm. Sein warmer dankbarer Blick, seine Aufmerksamkeit für die Musik. So wie Shelma hat auch er das orthodoxe Leben wohl mal in Frage gestellt. Er hat sich wohl wieder für ein religiöses Leben entschieden und ihm in die Augen zu schauen ist etwas ganz besonderes für mich. Normalerweise gucken die Männer mit Schläfenlöckchen und Anzug zu Boden, wenn sie an mir vorbei gehen. Seine Offenheit für unsere Begegnung lässt mein Herz weich werden. Ich höre auf die Menschen zu zählen, die bei uns stehen bleiben. Ich trenne meinen Selbstwert von dem Klang der fallenden Münzen und denke an die Worte von Roni. Wir sind hier, um mit den Menschen einen Moment zu teilen. Wir wollen ihnen ein Geschenk geben, etwas, dass sie sonst vielleicht nicht bekommen. Inspiration, Liebe, Mut, Frohsinn, Berührung…

Ich blicke Abraham in die Augen und will für ihn spielen. Genau jetzt ist der Moment für unser neues Lied. Ich packe die Tambura und schon die ersten Töne fühlen sich genau richtig an. Ich ermutige Shelma, den von ihr geschriebenen Text zu singen. Roni und der Daf-Spieler geben uns Harmonie und Rhythmus und gemeinsam tauchen wir ein. Die Passanten lassen sich verzaubern und sind für einen Moment ganz bei uns. Ich denke an meine Mama. Ich stehe auf, beginne zu unserer Musik zu tanzen und spiele weiter, fiddle und singe, tanze und lache. All die Schwere der letzten Tage fällt von mir ab.

Abraham klatscht und kommt auf uns zu. Er versucht sich mit Jiddisch, doch sieht meine fragenden Blicke. Während er seine Anzughose über seine andere Hose zieht erzählt er mir von den Gedichten, die er für Moshe schreibt. Er wünscht sich, sie würden Lieder werden.