Neue Welt

Mit gespitzten Ohren lausche ich meinem Rhythmus. Er ist langsam, stabil, wiederholt sich. Ich finde ein paar Töne dazu. Lang, warm, simpel. Auch sie wiederholen sich. Nur die Worte sind mir undeutlich. Slavisch angehaucht, doch verstehen tu ich sie nicht. Welche Form von Musik ist das überhaupt? Wer hört sich sowas an? Sind diese paar Töne genug?

Ich habe das Gefühl, meine Klänge rechtfertigen zu müssen. Ich habe das Gefühl, sie bräuchten einen Namen. Nur dann kann ich sie nicht mehr einfach wegschieben. Dann sind sie wirklich da.
Doch bis dahin wanke ich zwischen Schamgefühl und schlechtem Gewissen, folge den Klängen, die Namen haben, so lange bis ich den meinen verliere. Bis ich beklaut werde, mich von der Sonne verbrennen lasse, oder an der Rinde eines Baumes verletze. Dann wache ich auf und werde mir klar, dass ich auf mich achten muss. Es ist wie ein Moment der Legimitation. Endlich darf ich meine Bedürfnisse ernst nehmen. Wieder darin vertrauen, dass ich schon weiß, was gut für mich ist.

Zu Anfang des Auslandsjahres hatte ich einen Bonus. Ich war ein kleines Kind, neugierig auf eine neue, fremde Welt, bewusst über ihr Unwissen, im Reinen mit der Position der Lernenden. Und plötzlich meine ich, die Wissende sein zu müssen. Meine Zeit ist abgelaufen, und alles, was ich noch nicht kennengelernt habe gilt als Scheitern.

Ich erlaube mir nicht mehr, unwissend zu sein. Als hätte ich plötzlich Verantwortung für die ganze Welt um mich herum, als müsste ich etwas zurückgeben. Als wäre die Zeit den Annehmens abgelaufen und jetzt wäre Zahl-Zeit…

Die alte Wunde öffnet sich und wirft Licht auf die Angst, nicht genug zu sein, nicht geliebt zu werden. Bis Raviva auf Pause drückt. Wir treffen uns zu einem Abschluss-Gespräch des Jahres. Sie will sich bedanken für meine Arbeit. Sie erinnert an den Moment des letzten Konzertes, bei dem ich neben dem blinden Pianisten während unserem piazolla-Duo auf die Knie gegangen bin um ihm das Zeichen für ein Ritardando zu geben. Was für ein Zeichen ich damit gesetzt hätte. „Nur du hättest mit ihm spielen können. Du hattest keine Auftrittsschuhe, aber das war dir egal. Warst in Socken auf der Bühne.“

Sie spricht weiter und weiter, sagt mir, wie sehr sie meine Arbeit des abgelaufenen Jahres geschätzt, meine Anwesenheit genossen hätte. Meine Simplizität, Ehrlichkeit, Menschlichkeit. Meine Art, jedem Menschen auf Augenhöhe zu begegnen. Meine Stimme und mein Geigenspiel, meine Ideen und meine Offenheit…

All das scheint mir so selbstverständlich, denn so bin ich halt. Ich vergesse, dass ich genau richtig bin, auch wenn ich nicht meine Hundert Prozent gebe. Dass mein 50 % für andere manchmal völlig ausreicht. Dass ich nicht herausstechen muss um jemand zu sein. Wie viel ich gebe, in dem ich bin.

Es gibt kein Limit im Ich. Ich bin das und das und das und das. Kein Oder, nur Und. Ich bin jetzt, ich war und ich werde sein. Ich bin, weil ich war. Und mich gab es nicht, wenn es mich nicht auch geben wird.

Langsam beruhigen sich meine Gedanken. Die Tage in Tel Aviv, wo ich einfach mein eigenes Ding durchziehe tun mir gut. Wo ich ins Bett gehe, wenn ich müde bin, esse, wenn ich hungrig bin, mit Leuten spreche, wenn ich gesprächig bin. Meine Wäsche wasche, ein Fahrradschloss kaufe, die Stadt dokumentiere. Obst und Gemüse am Markt vor den Chlor-Bächen rette, verdächtige Frauen auf der Straße nach Gay-Parties frage, Freunden in Isolation Essen bringe, schreibe.

Schreibe, über all die Erlebnisse, Eindrücke, Gefühle und Gedanken der vergangenen Wochen. Ihnen einen Platz gebe, sie abwiege, in Relativität setze zu meiner Geschichte. sSchreibe über die Demo gegen rassistische Polizeigewalt, die Geschichte über den Mord auf der Gay-Pride 2015, den Humus mit Yoni, das Schreien der Pfaue, den Kuss mit Merav, die lila Blüten und hohen Sträucher beim Blick aus dem Zelt, das spanische Lied mit Yaara, den roten Himmel an der Grenze zu Libanon, die Wanderung mit Yuval, die rot-grünen, gezwirbelten  Baumstämme, den israelischen Alon mit persischen Eltern im Kofferaum des verstaubten Trucks, die Millionen an Mücken, die Flüsse und glasklaren Teiche, die Feigenbäume und Eukalyptus-Schatten, die Spaziergänge mit Shemer…

Ich bin so dankbar über all das was war. All die Menschen, die mir ihr Anders gezeigt haben und ein Stück Anders in mir ein Zuhause gefunden hat.

Mit jeder neuen Melodie, die ich höre, spüre ich einen versteckten Ton in meinem Körper resonieren. Mit jedem nackten Körper, den ich sehe, traue ich mir, den eigenen etwas genauer anzuschauen. Mit jedem Lebensweg, dem ich begegne, wird mein eigener ein Stückchen realistischer. Mit jedem Anders, das ich kennenlerne, fange ich an ein Stückchen mehr zu leuchten. Doch bevor nicht jemand diese Punkte berührt und ihnen einen Namen gibt, sind sie Schatten. Sie verfolgen mich, tauchen immer wieder auf, machen mir Angst. Ich gehe weiter, suche nach Legitimation, Resonanz, Wiedererkennung, um diesen Schatten Form und Farbe zu geben. Aber das reicht mir nicht. Ich will darauf warten, bis mir jemand sagt, ich wäre nicht allein damit auf dieser Welt. Dass ich einer Ilusion nachrenne, irgendeinem Bild von Realität, das wir uns als Gesellschaft gemeinsam kreiert haben. Ich will der Welt ehrlich begegnen. Meine Schatten anleuchten, abtasten,  ansprechen, aushorchen, annehmen. Den ungehörten, undeutlichen Stimmen in mir Ausdruck schenken, ihnen Worte schenken, sie legitimieren, strahlen lassen. Dem Menschen, der ich heute bin, zu glauben. Meinen Ausdruck von Leben zu einer Geschichte werden lassen.