Nächste Station: Haifa

„Doch, du hast ein Zuhause!“ sagen mir die Leute um mich herum und zeigen auf ihr Haus.
Seit 3 Wochen bin ich unterwegs, von einem Ort zum nächsten. Jede Nacht irgendwo anders. Heute also auf einem Balkon in Haifa, auf einer der typischen 10cm dicken Matratzen, die hier alle zuhause haben für ihre Gäste. Ich muss zugeben, es hätte auch Platz drinnen gegeben, aber ich liebe es, draußen zu sein. Wir sind im 6. Stock und ich kann bis zum Meer schauen von hier aus. Dicker Nebel liegt morgens über dem Hafen sodass ich ihn eher erahne als ihn wirklich zu sehen, doch der Blick in die Weite tut gut.

Gegen Mittags gehe ich los, die Stadt erkunden. Im Bus höre ich die Menschen Russisch sprechen und wir fahren an einem Likör-Laden namens Putin vorbei. Das Blau-weiß der Fahnen flattert im Wind. Die Reste der Feieirlichkeiten der Israelischen Unabhänigkeit, oder wie die Palästinenser sagen: Al Nakba (die Katastrophe). Es gilt als der Lichtpunkt der jüdischen Kultur, der ausnahmsweise mal nicht an ihr Leiden erinnert. Seit Pesach (Die Befreiung der jüdischen Sklavenherrschaft in Ägypten) ist jeder Feiertag des letzten Monats ein Gedenktag. Mehr als ein Mal bin ich in den letzten Wochen von der Sirene überrascht worden, die alle zum Stehen bringt, egal wo sie gerade sind. Eine Minute lang Gedenken sie den Opfern des Holocaust und den gefallenen Soldaten während den Kriegen.

Von dem Viertel der roten Dächer und symmetrischen Gärten, auch Deutsche Kolonie genannt, gehe ich immer weiter bergaufwärts, in Richtung Südwesten. Ich mache Halt an einem Maulbeerbaum und esse, bis mir keine Frucht mehr in die Hände fällt, wenn ich sie berühre. Meine Hände sind dunkel gefärbt und ich lege ein buntes Tuch über Kopf und Schultern. „Kommst du aus der Wüste?“ fragte mich gestern der Busfahrer, nach einem Blick auf das Tuch und der grünen Mochila auf meinem Rücken.

Auf einer Wegbank sitzen zwei Frauen. Zwei Zeitungen als Sitz- und Rückenpolster, es scheint mir eine Schutzmaßnahme gegen den Virus. In ihren Händen zwei Handys. Ich meine ein stummes „hey“ von mir zu geben, bin mir aber nicht sicher.

Meine Schritte sind gleichmäßig, zwischendrin bleibe ich stehen und schaue auf die Stadt, die immer tiefer zu sinken scheint. Zu meiner Rechten gehen Brücken weg, die zu den Eingangstüren der Wohnblocks führen. Auf den Seiten der Brücken ragen Bäume heraus, die unteren Stockwerke verschwinden im Laubwald. Die Straße zu meiner Linken ist kaum befahren. Ab und zu kommt ein Auto vorbei und für einen kurzen Moment frage ich mich, ob ich nach einem Tramp fragen soll. Ich strecke halbherzig meinen Finger raus und schaue den Rücklichtern hinterher, wie sie hinter der Kurve verschwinden. Ich fühle mich gut, alleine zu sein. Einfach unterwegs in die Richtung, die mich wohl irgendwann zu einem Bus bringen wird um dann beim Geigenbauer meine Geige abzuholen.

Ich versinke in Gedanken. Langsam tuckern die Eindrücke der letzten Wochen an mir vorbei. Nach und nach gelingt es mir, Gedanken zu stricken und Dinge miteinander zu verknüpfen. Ich denke an das Telefonat mit Ayca. Diejenige, bei der ich mich nicht verstecken kann und mein Herz sich öffnet. Diejenige, die mich seit 20 Jahren kennt und wir gemeinsam unser Verständnis für Freundschaft kreiert haben. All die Dinge der letzten Wochen, die ich irgendwie einfach so hingenommen habe bekam sie gestern auf einmal, wie ein Resteessen in der Mikrowelle auf den Tisch geklatscht. KEINE Ahnung wo anzufangen und wie weiterzumachen.

Handy kapputt, Pin vergessen, Kontakte weg, Geigensaite gerissen, Steg umgekippt, kein Üben, Makam-Unterricht, Digeridoo, Improvision, Frauenpower, Lederkappe weg, Wilder Senf, Permakultur, Gartenarbeit, Sonnenbrand, Bienenstich, Rückenschmerzen, Beine schwer, Bauch tut weh, Pilz am Zeh, Frau vergessen, Mann im Bett…

Luft holen.

Ich erzähle ihr alles. Von all den Dingen, die mich sonst so mitreißen, doch jetzt irgendwie grau scheinen. Sie berühren mich nicht. Sie sind zu viel, zu zerstreut. Wonach ich mich gerade wirklich sehne, ist ein Haus, an dem ich meinen eigenen Garten erkunde und Samen für Samen der Erde neues Leben schenke. Das Haus auf der Suche nach Panama.

Ich klettere über ein Geländer und setze mich an den Berghang. Umringt von wildem Gewächs knabbere ich an dem Hafer, der zu mir rüber baumelt. Noch vor ein paar Tagen waren die Körner so weiß wie Milch. Jetzt sind sie hellbraun, bissfest und bereit, aus ihrer Hülle genommen zu werden.

Der Verlauf des Jahres. Das Wunder des Wartens.

Ich fühle mich reif. Reif, all der Vorbereitung der letzten Zeit Geruch und Farbe, Platz und Bedeutung zu geben. Ich bin satt. Habe aufgesaugt, was ich finden konnte. Habe genug von all den Beobachtungen der anderen. Von den tausend Geschichten und Bildern der gestapelten Bücher. Ich habe mich sattgesehen und gehört, genug verstanden und widerlegt, hinterfragt und ausgedehnt. Die Kreise meiner Neugierde und Entdeckungslust werden kleiner und kommen dem Eigenen immer näher. Dem Platz, an dem ich meine eigene Welt kreiere. Ein Platz zum ausprobieren, lernen, entwickeln, und weitergeben. Zum Fehler machen und Lösungen finden. Ich will die Tiefe teilen mit den Menschen um mich herum, uns gemeinsam auseinandersetzen. Die Überraschung in dem suchen, was mir so alt bekannt vorkommt. Lieben zu lernen, anstatt mich zu verlieben.

Ich komme zu einer Aussichtsplattform. Die deutsche Kolonie sticht mit ihren roten Dächern aus dem Weiß-Grün der Stadt hervor. Dahinter der Hafen und das Meer. Strahlend blau. Und links neben mir ein Kloster. Zu seiner Seite geht ein kleiner Pfad entlang. Er führt zu einer steinigen offenen Ebene, mit stracheligen Sträuchern. Der Geruch von Thymian steigt mir in die Nase und weckt Erinnerungen an Frankreich. Ich mache mich auf den Weg nach unten, hüpfe über die Lücken zwischen den angelegten Treppen und werde umringt von Wald. Schatten breitet sich über mir aus und kühlt mich ab. Über eine Beton-Brücke gelange ich ans Meer. Ich stecke meine Füße in das salzige Wasser und lasse mich von den Wellen anspritzen, die sich an den Felsen brechen. Die Sonne steht auf 45 Grad und ich denke an meine Mission: Die Geige abholen. Also frage ich eine Gruppe Jugendlicher, wie ich von hier zur nächsten Bank komme. Sie schauen in ihrem Telefon nach und bieten mir an, mich hinzufahren. Ich setze mich auf die Rückbank, zu dem kleinen Boxer, der unruhig schnauft, die Zunge nach oben geklappt. Das Mädchen neben mir nimmt eine Windel und versucht sie, dem Hund anzuziehen. Ich schaue verwirrt zu und frage, warum sie das macht. „Ich will deine Hilfe!“ meint sie, holt mich aus meiner Erstarrung. Ich halte den Hund, während sie ihm die Windel überzieht. Der Rest seinen Schwanzes bekommt Platz durch ein kleines Loch auf der Rückseite der Windel. „Sie hat ihre Tage!“ erklärt mir endlich eine der dreien. Sie heben die Hündin rum, tätscheln sie und lachen. Ich drehe mich weg und schaue aus dem Fenster aufs Meer.

Bei der Bushaltestelle angekommen, an der der Bus nach „Ein Carmel“ abfährt, frage ich jemanden, einen Anruf zu betätigen. Mit Mundschutz und über Lautsprecher rufe ich den Geigenbauer an und erfahre, es sei schon spät, er würde gleich nach Hause fahren. Wir verabreden uns für morgen und ich frage einen Bediensteten, wie ich zurück ins Zentrum komme. „Von welchem Zentrum sprichst du?“ fragt er. „Einfach irgendwohin, zentral in der Stadt.“ „Aber du musst doch ein Ziel haben! Ich kann dir nur weiterhelfen, wenn du mir sagt, wohin.“ – „Ok. In das deutsche Viertel.“

Ich fahre an den roten Dächern vorbei und steige ein paar Stationen danach aus. Das Viertel mit den Häusern aus echtem Stein schmeichelt mir. Die meisten sind leer. Ich lege mich auf eine Terasse eines geschlossenen Hamams und schaue in den Himmel. An der Hauswand ist ein Skateboard als Bank befestigt. Vögel kreisen über mir. Mir wird kühl und ich will mir meinen Schal überlegen. Ich kann ihn nicht finden. Ich werde nervös und stelle ihn mir vor, wie er auf dem Sitz im Bus liegt, auf dem ich ihn wohl vor einer halben Stunde vergessen habe. Ich gehe zur Haltestelle, steige in den nächsten Bus, frage nach einer Servicenummer und bekomme keine Auskunft. Ich steige wieder aus, rufe mit dem Handy eines nett-aussehenden Menschen ein weiteres Mal an. Nichts. Ich werde traurig. Ein leeres traurig. Über mir färbt sich der Himmel rosa. Na los, such dir einen schönen Platz zum lesen, sag ich zu mir selber. Erkunde weiter. Genieße das Abendlicht. Ich streunere von der einen Straßenseite zur anderen. „Los jetzt, nach Hause!“ sagt mir eine Stimme, ganz klar und deutlich und ich mache mich auf den Weg zu dem Balkon, wo mein Rucksack steht.

Der Maulbeerbaum

Eine Woche bin ich hier. Jeder Tag beginnt mit einem kleinen Spaziergang druch die Gräser, Yoga und einem Fruchtshake. Dann geht die Arbeit los, Steine schleppen, Zement zubereiten, Schubkarren mit Kies befüllen und herumfahren, Erde, Sand und Stroh vermischen und die Lücken in der Reifenmauer stopfen. Mittagessen kochen, Duschen und dann Geige üben bis die Sonne untergeht, nahe dem Maulbeerbaum, dem Treffpunkt des Hofes. Vor dem Abendessen kommen die Kinder zu dem Baum, der hinter dem Gemeinschaftsraum mit Früchten nur so protzt. Das Mädchen mit den blonden Locken und der kleine Junge, der nie auf meine Fragen antwortet. Tagsüber spielen die beiden auf dem Sandberg. Sie sitzen da, die beine gespreizt, schaufeln den Sand von einer Seite zur anderen, füllen Formen und schütten sie wieder aus. „Ich helfe gerne“- meint sie, während wir die Eimer mit Sand für den Hausbau füllen. „Ich helfe gerne, weil ich es mag, mit Leuten zu sein. Und ich mag es mit dir zu sein, weil du dieses schöne Lied auf der Geige gespielt hast.“

Der Maulbeerbaum. In meiner Familie gibt es sogar ein Lied über ihn. Wir kannten sie alle in der Stadt. Zumindest glaubten wir daran. Nach und nach wurden sie weniger. Einen gibt es noch, am Harras, direkt an der Riesenstraße, hinter der Bushaltestelle. Nicht unbedingt der romantischste Ort, um Beeren vom Boden aufzuklauben. Das letzte Mal, als ich dort war, wollte ich der Frau, in die ich verliebt war, diese kostbaren Früchte zeigen. Ich bin auf den Baum geklettert und habe sorgsam ein paar gepflückt. Ich erinnere mich an sie im Licht der Straßenlampe um 1 Uhr nachts, Lippen und Zähne lila-blau.

Doch nicht nur der Baum bringt die Menschen hier zusammen. Auch der neue Mitbewohner Aviv. Er baut den Biemer, den er als Soldat im Dienstwagen mit sich fährt, im Gemeinschaftsraum auf und Menschen kommen zu Besuch. Er zeigt, dass er auf der Suche ist. Aviv wirkt irgendwie unschuldig, noch nicht so abgebrüht. Vor zwei Monaten hat er seine Sachen gepackt, den Großteil hinter sich gelassen, und ist losgezogen, hier der erste Halt. Er probiert sich aus mit Gemüse und Tee und nen Dreier hat er sich auch nicht entgehen lassen. Leider verschimmelt das Gemüse im Kühlschrank, das Mädl von letzter Nacht hat ihm die Freundschaft auf Facebook gekündigt und mit den Hofvermietern hat er sich zerstritten. Doch seine „Unvollkommenheit“ bringt einen Charme mit sich. „Plötzlich gibt es hier Community“ – meint Maya, als wir am Lagerfeuer seinen Abschied feiern. Wir singen Bella Chao und Ederlezi, reichen Brot mit Hummus wie einen Joint herum und reden über feministischen Porno. Mit einer kleinen Frage bringt Aviv die Menschen zum erzählen. Seine Suche steckt an. Mir wird klar, wie sehr ich eigentlich bezweifle, dass sich Menschen wirklich verändern können. Als wäre Authentizität etwas, mit der wir gesegnet sind oder eben nicht. Als wolle ich ihnen keine Chance geben, die ganzen Schichten der Erziehung und der Normen langsam abzutragen und sich selber näher zu kommen. Als wäre ihre Veränderung erst zu akzeptieren bei ihrer Vollendung. Ich genieße von dem Mut derjenigen, die diesen Weg bereits gegangen sind, und verurteile die, die nach Orientierung suchen. Welch Kontradiktion. Welch Hochmut meinserseits. Dabei begegne ich fortlaufend inspirierende Menschen, die mir von dem Moment erzählen, an dem sie beschlossen haben, etwas zu verändern. An dem sie in die Wüste gegangen sind um die Stille und Einsamkeit aufzusuchen. An dem sich eingestanden haben, dass sie noch etwas zu lernen haben, Dinge, die vielleicht schwierig sind zu akzeptieren. Denn sie dem Sinn des Lebens, den sie sich bisher erschlossen haben.

Ein Frosch hüpft an mir vorbei. Ich sitze Im Gemeinschaftsraum auf dem Hof von Udi und Maya, mal wieder. Es fühlt sich vertraut an hier. Ich kenne die verschiedenen Schlafplätze, in denen die beiden zeitweise schon gewohnt haben. Die Komposttoiletten, den Hühnerstall, die Selleriequelle und die jungen Eukalyptusbäume, die ich selber gepflanzt habe. Jedes mal wenn ich herkomme, ist etwas anders. Die Küche hier, der Schlafplatz dort. Neue Menschen hier vor Ort. Und ich, jedes Mal ein Stückchen anders. In unserem Wandel werden wir begleitet von den Pflanzen und Tieren, die dem Laufe des Jahres folgen. Als ich zum ersten mal hier war, war es staub trocken und meine Füße quälten sich mit den vielen kleinen Dornen zwischen den trockenen Gräsern. Es war die Zeit der Granatäpfel und der Feigen, der Notwenigkeit der Abkühlung im Teich. Mit der Regenzeit verwandelte sich der Boden zu grünem Samt unter den Sohlen und lud jauchzend zum spazieren ein. Zitrusfrüchte bildeten gelb-orangene Flecken zwischen dem Grün. Jetzt, ein halbes Jahr später, trocknen langsam die Halme und der Boden bekommt Risse. Die Wiese bekommt einen Stich an Violett, gemischt mit dem beige-braun der eingehenden Gräser. Kakteen sind nur so übersäht von Schneckenhäusern und Frösche werden nachts munter und lachen, streiten, flirten. Es ist die Zeit, wo die Schlangen aus ihrem Winterschlaf überwachen, die Wolken am Himmel immer seltener werden und die Vögel in Riesenschwärmen über unseren Köpfen vorbeiziehen. Sie machen hier ihre Pause, bereit für die Reise in den Sommer des Nordens.

Kurz bevor ich fahre, gehe ich nochmal über den ganzen Hof, bis an hintere Ende, wo der versprochene parkistanische Maulbeerbaum steht, der mit den langen zuckersüßen Früchten. Sie erinnern mich an dem Sirup aus Istanbul, den ich meinem Papa mitgebracht habe. Ich war mir damals so sicher, dass es eine solche natürliche Süße nicht geben kann. Ich wurde eines besseren belehrt.