Licht aus

Es ist ein 01:01 Uhr Nachts. Ich liege auf einer dieser Matratzen, die ich aus den arabischen Haushälten kenne. Ca. 5 cm dick und für ine Person. Leicht zu transportieren und zu verstauen. Ich höre den Regen auf die Dächer der Nachbarn prasseln. Eigentlich sollte die Regenzeit schon längst vorbei sein. Doch dieses Jahr ist alles anders. Der Winter hält an, die Wüste blüht. Seit ein paar Tagen gibt es einen ganz besonderen Geruch in der Stadt. Ein Frühlingsduft, frisch und warm. Wenn ich mit dem Fahrrad durch die leeren Straßen fahre, bläst mit ein leichter Wind entgegen. Ich werde diesen Ort vermissen. Ganz ganz doll.

Vor ein paar Stunden saß ich noch auf dem Teppich in unserem Wohnzimmer und habe versucht mir einen Sarai in Bajad (arabische Kompositionsform mit ausgewählten Tönen) auf der Geige beizubringen. Da bekommt mein Mitbewohner einen Anruf von unserem Vermieter. Ich soll morgen ausziehen. Als Schemer um Erklärung bittet, wird er so laut angeschrien, dass ich es nicht nur durch das Telefon höre, sondern auch durch die Decke. Notitz an mich selbst: Wohne niemals mit deinem Vermieter in einem Haus.

Ob es die Geige ist, das weiß ich nicht. Doch rigendwas hat seine Frau, Ora (aus dem Hebräischen: Licht), zu einem wütenden Schatten werden lassen. Nach unseren misslückten Versuchen, mit ihr persönlich zu reden und zu verstehen, wann es denn möglich sei um zu üben, bekam ich nur folgende Nachricht.

„Hört auf zu spielen. Es nervt enorm. Es reicht!“

Wir machen einen Spaziergang. Mit hängenden Schultern laufen wir schweigend nebeneinander. „Es ist wie im Film.“, meint Schemer. Er entschuldigt sich bei mir für etwas, das er nicht getan hat. „Mach dir keine Sorgen, wir finden schon was. Eine Freundin zieht nächste Woche um und da ist noch ein freies Zimmer in der neuen Wohnung. Die hat mich eh gefragt, ob ich zu ihr ziehen will. Wir kriegen das schon hin. Ich kann dann im Wohnzimmer schlafen.“

Es dauert nicht lange um meine Sachen zu packen. Ich hab ja nicht viel. Ein paar Klamotten, die Fotos an den Wänden, die gesammelten Steine, meine Notizhefte und die Kameras. Etwas Essen und Kulturbeutel, das war’s. Wir bringen das Zeug zum Auto und setzen uns auf den Boden in dem irgendwie leeren Wohnzimmer, es fehlt der Jahreskalender an der Wand mit den Gartentips und den schlnen Zeichungen. Jede ein Kissen unterm Po, lehnen wir uns an der Couch an, so wie es zu unserem abendlichen Ritual geworden ist. Wir haben in den letzten Tagen eineinhalb Staffelt Sex Education angeschaut und lenken uns damit jetzt ab, während wir auf die Antwort von Amnun warten. Hoffentlich kann ich bei ihm und Tia die nächsten Tage schlafen.

Nach einer halben Folge bekommen wir das o.k. Ich nehm einen Beutel aus dem Gefrierfach, packe meinen Rucksack und schließe die Tür hinter mir. Die Lichterkette, die wir noch vor Kurzem aufgehängt haben, leuchtet noch.

Fantasien

Bis zum Kragen stehen uns die Dinge, mit denen wir uns sonst im Alltag beschäftigen. Und plötzlich fällt der Boden weg, mit all dem Müll, und wir stehen wie auf einem Podest ganz alleine, ganz nakt im nichts. Ich blicke an mir runter und betrachte diesen krummen Körper. Meine Zehen sind länger als ich dachte, die Sehnen sichtbar, wenn ich nach Gleichgewicht suche. An meinen Knien entdecke ich eine Schürfwunde und erinnere mich an den Tag, an dem mich die Wellen mitnehmen wollten. Ich betrachte mein Schamhaar und seine goldrötliche Farbe. Ich muss mich etwas nach vorne beugen um es zu sehen. Mein Blick folgt der Linie bis zum Bauchnabel. Doch die Richtung der einzelnen Haare ist undeutlich. Ich verkleinere den Abstand zwischen Kinn und Brust und entdecke einen kleinen roten Fleck, etwas links der Mitte, auf halben Höhe zur Brustwarze. Kommt der von dem Baum, auf dem ich gestern war? Manchmal juckt es mich, wenn Teile der Rinde abbröckeln und auf meine nackte Haut treffen. Ich atme tief ein und frage mich wohin mit mir. Wege tauchen auf und verschwinden im nächsten Moment. Ganz langsam taste ich mit dem großen Zeh, ob da nicht doch etwas ist. Doch es bleibt leere Schwärze. Ich blicke erneut auf meinen Körper herunter. Jetzt sind wir hier wohl zu zweit. Allein.

Zeit zum denken. War das nicht das, wovor die Gurus der Sekten so Angst haben? Dass ihre Mitglieder plötzlich verstehen, dass sie sich für ein anderes Leben entscheiden können? Dass sie sich befreien können, von der scheinbar einzigen Wahrheit…  Ist unsere Gesellschaft vielleicht jetzt bereit, sich mit etwas auseinander zu setzen, dass sie sonst nicht sehen will? Bin ich bereit dazu?

Was bedeutet handeln jetzt?
Wie bin ich weiterhin ein Teil des Ganzen, wenn meine physische Präsens auf den Straßen verschwindet?
Wo finde ich meinen eigenen Wert, wenn plötzlich alles Gewohnte wegfällt?

Können wir duch die Isolation unserer Fantasie wieder begegnen?

Ich stelle mir einen Michael Ende vor, der ganz „Fantasien“ kreiert hat. Oder John Ronald Reuel Tolkien, der die Orks und Elfen in seinen Büchern zum Leben erweckt hat. Doch ist das nicht die selbe Realität, nur mit anderen Charaktären? Können wir uns überhaupt eine neue Realität ausmalen, solange wir ihr nicht begegnen? Vielleicht wird uns ja gerade die Chance geboten, diese Alternative abzutasten, zu erspüren, ein Stück weit auszuleben.

Wohin wollen wir die Energie dieses weltweiten Erdbebens hinleiten? Ja, wie sieht eine Revolution in unserer Zeit überhaupt aus? Findet sie auf der Straße statt? Oder ist sie ganz leise? Bedeutet sie, sich Zeit nehmen zum Denken und langsam unbemerkt diese scheinbare Wahrheit zu verlassen? Oder ist sie ganz einfach wie mein Mitbewohner sagt:

„Glücklich Sein in der Isolation. Das ist Revolution!“

Um mich herum scheint ein Konformismus zu entstehen, der mir selbst auch nicht fremd ist. Den Richtlinien zu folgen scheint mir gerade in vielen Aspekten das Richtige zu sein. Und mich mit mir selber auseinander zu setzen, habe ich in den letzten Monaten noch als Privileg gesehen, das ich mit offenen Armen empfangen habe. Jetzt ist die Isolation von außen angekommen, und die Rebellin in mir meint, sie müsse raus in die Welt, anstatt zuzuschauen, wie Staat und Autoritäten die Situation kontrollieren. Von Zuhause hab ich den Nahen Osten immer als brodelnde Quelle gesehen. Jetzt bin ich hier, schaue nach Europa, Deutschland und den Balkan und fühle mich weit weg von dem Geschehen, in das ich so gerne eingreifen würde.

Es wird Abend. Es regnet und die Entscheidung, noch rauszugehen, wird mir aus den Händen genommen. Erleichterung. Der Tag ist rum und all die Dilemmas auf morgen verschoben. Ich packe meine Geige aus und erlaube mir Musik zu machen. Einfach nur zu spielen, meine angefangenen Texte auszugraben und ihnen Form zu geben. Ich fange Melodien auf, die entstehen und schenke ihnen Achtung. Auch wenn es mal wieder die gleiche Tonart ist. Auch wenn es um Tonleitern und gebrochene Akkorde geht. Auch wenn es vor Einfachheit nur so strotzt.

Mami

Meine Vermieterin ruft mich. “Mami! Komm mal rüber!“ Ich hatte mir zur Feier des Tages (die Sonne scheint und noch kann ich mich einigermaßen sorglos auf die Straße begeben) ein bodenlanges Kleid angezogen und einen bunten Schal um die Schultern gelegt und war gerade bereit, meinen Füßen etwas frische Luft zu gönnen und zum Markt zu gehen.

Ich denke an den Film “Mami”, den ich noch vor ein paar Wochen gesehen habe und grinse schweigend in mich hinein.

Dann laufe ich ums Haus und klopfe an ihrer Tür. „Warte Mami. Bin gleich da“ Sie macht die Tür auf und bietet mir einen Stuhl in dem weiß glänzenden Wohnzimmer an. In einer Ecke sehe ich ein Aquarium neben einem 3 mal so großen Flachbildfernseher. Auf dem Tisch stehen mindestens 10 Packungen Zucker, daneben einige Kilo Reis, 4 Flaschen Bratöl und eine Cola. „Wie lange wohnst du schon hier? Und wie viel bezahlst du Schemer? In bar? Was machst du sonst? Bist du Studentin?“ Ich beantworte ihre Fragen eine nach der anderen und frage sie dann: „Ist was los?“ „Ja, Mami, es gibt ein Problem. Dein Mitbewohner macht mit dir Business.“ Sie ascht ihre Zigarre ab und wiederholt: „Wie haben hier ein richtiges Problem.“ Sie erklärt mir die Gesetze zum Thema Untermiete und dem großen Fehler meines Bewohners, ihr nicht von meinem Einzug zu erzählen. Ich zeige Verständnis und frage nach einer Lösung. „Geduld Mami. Erstmal hör mir zu. Wir haben hier ein Problem.Der macht mit dir Business“ Ich versuche ihr zu erklären, dass mein Mitbewohner ein Freund von mir ist, dass wir Dinge auf Vertrauensbasis regeln und dass das mit dem Sublet Gang und Gebe ist heutzutage. “Er hat einfach kein Geld, um die Miete alleine zu zahlen. Du weißt, wie schwierig die Situation hier ist.“
– „Aber er war nicht ehrlich zu uns. Er hat Zick Zack gemacht, ist nicht direkt zu uns gekommen. Ich bin wütend!“
– „Er hat glaub ich einfach nicht dran gedacht. Aber bitte, rede selbst mit ihm, bringt die Karten auf den Tisch.“
– „Nagut. Jetzt muss ich mich aber erstmal beruhigen. Bis dahin, schweige darüber!“
– „Ich kann das nicht gut, ich bin ein offenes Buch.“
– „Wenn es um euch geht, dann lügst du nicht, aber uns macht ihr was vor! Ich erhöhe die Miete ums Doppelte!“
Mir steigen Tränen in die Augen. „Dann ziehe ich wohl aus. Das kann ja keiner bezahlen. Du kennst die Situation gerade. Es ist nicht einfach.“
„Wein nicht. Ich bin nicht sauer auf dich. Er hat einen Fehler gemacht! Er soll 10.000 Shekel zahlen und du lebst da umsonst. Er soll verschwinden!“
Mit Knoten im Hals erwidere ich: „Er ist ein Freund von mir.“
„Hör auf zu weinen! Ich will dir nicht weh tun! Wenn kein Corona wäre, würde ich dich jetzt umarmen. Aber er hat einen Fehler gemacht! Ich bin richtig sauer.“
„Bitte rede mit ihm.“
„Ich muss mich erstmal beruhigen. Was hast du gesagt, studiert du? Spielst du ein Instrument? Unterrichtest du auch? Ich habe Hackbrett gespielt. Und ich spiele Darbuke. Ohne Noten, einfach so.“
Wir wechseln für eine Weile das Thema und sie beschließt: „Gut, ich werde mit ihm reden. Für meine Verabredung bin ich eh schon zu spät. Aber sag ihm. Alles nur wegen dir! Du hast ein gutes Herz. Nur wegen dir mache ich das!“

Ich hole Schemer in die Wohnung. Er will alleine mit ihnen reden. Ich warte draußen und hoffe, dass er nicht mit ihnen diskutiert, dass er nachgibt.“ Nach einer viertel Stunde klopfe ich an die Tür.
„Du kommst genau zum richtigen Zeitpunkt!“
Schemer sitzt, dünn wie er ist, auf dem Prangerstuhl, und versucht den Abstand einzuhalten, um sich vor dem Virus zu schützen.
„Wir hatten ein gutes Gespräch. Ihr bekommt einen neuen Vertrag, gleicher Mietpreis. Schemer hat seinen Fehler eingestanden und um Verzeihung gebeten. Er ist ein guter Mensch. Aber Schemer, du weißt, dass sie dich verteidigt hat, oder? Sie ist eine gute Freundin.”
– “Er ist auch ein guter Freund.” entgegene ich und denke an all die Male, die ich bei ihm Unterschlupf gefunden hab, zu den Zeiten, in denen ich kein Zuhause hatte. Dann hab ich mich auf sein Sofa gesetzt, mir wurde warmer Chai in die Hand gedrückt und er hat mich gefragt, wie es mit der Liebe ausschaut.
Sie fährt fort: “Weißt du, ich erinnere nur gute Dinge. Jemand neben mir weiß, dass er mir etwas angetan hat und ich komme und umarme ihn. Ich habe keine Erinnerung an schlechte Dinge. Am Ende geht es nicht ums Geld. Am Ende sind wir alle Mensch.“ Ihre Augen füllen sich mit Tränen.
„Wenn kein Corona wäre, würde ich dich jetzt umarmen.“ sage ich.

Wir stehen auf. „Schemer, Nimm das hier mit, den Reis! Jetzt komm schon! Ich werf ihn dir zu. Fängst du?“ – Ich sehe wie schwer es ihm fällt. Mit dem Reis in der Hand gehen wir nach draußen.

Hier Sein

Es ist die Zeit gekommen um zu lesen. Um die Dateien auf meinem Laptop zu ordnen, um den Kompost vor meinem Haus zu beginnen. Es ist die Zeit gekommen, sich von den Mengen und den faszinierenden, unglaublichen, einmaligen und nicht-zu-verpassenden Events zu distanzieren und im Privaten nach Freude zu suchen. Anstatt der gegebenen Strukturen seinen eigenen Weg gehen… Mit der Nachricht, dass ich als Deutsche nicht mehr einreisen darf, falls ich Israel für einen Moment verlasse, habe ich innerlich Erleichterung verspürt. Ich konnte den Versuch loslassen, Jordanien zu sehen. Und Ägypten. Und all die anderen Plätze, die ich noch zu sehen hatte, bevor ich diesen Ort wieder verlasse. Die ich als erfüllte Träume irgendwie von meiner To-Do-Liste streichen wollte.
Dabei wünsche ich mir seit Wochen eigentlich nur Zuhause zu sein. Nicht mehr irgendwelchen Erlebnis-Lichtblitzen hinterherjagen. Den Versuch aufzugeben, das imense Puzzel dieser Region fertig zu stellen. Einfach nur hier sein. Nicht mehr zu planen. Mich nicht mehr vorzubereiten für die Zukunft, die sich von Moment zu Moment verändert. Es ist Zeit für Simplizität. Für’s Geige üben, Spazieren gehen und schreiben. Für’s Hebräisch lernen. Zeit, um die Reste vom Markt mitzunehmen, und zu Hause sauber einzusortieren. Zeit, um einfach nur hier zu sein und die Dinge zu machen, die ich schon so lange machen möchte. Einfach nur, weil sie mich interessieren, weil sie mir gut tun, weil sie mir wichig sind. Mir. Und nicht irgendwem.

 

“No one occupied Germany, it came from inside.”

Ich laufe durch die Allee von Bäumen und beginne zu weinen. An jedem Baum ist ein kleines Schild auf dem Boden mit einem Namen drauf. In meinem Ohr der Audio-Guide, der mir etwas Hintergrundinformationen zu dem Gebäude erklärt. Ich finde meinen Weg zu der Kinder-Gedenkstätte und weine erneut los. Auf dem Boden sehe ich DACHAU, AUSSCHWITZ, …. Und all die anderen Namen der 24 KZ-Stammlager. Ich bin erstaunt darüber, wie ein Ort eine Athmosphäse tragen kann. Ich wusste nicht, wie sehr mich das Thema berührt.

In dem Museumsbereich wird die Geschichte von Anfang an aufgerollt. Sie erzählen von den Verschwörungen gegen Juden schon vor 2000 Jahren durch das Christentum. Das Judentum (das als das auserwählte Volk gesehen wird, die Botschaft Gottes zu übermitteln) hat Jesus nicht als Messias anerkannt und wurde für seinen Tod und damit als Mörder Gottes beschuldigt. Seit dem wurde das Volk im Rang als niedriger gesehen (später mit der Rassentheorie war das dann auch biologisch begründet) und bekam immer wieder die Schuld in die Schuhe geschoben. Sie wurden als Parasiten gesehen, die die Zerstörung der gesamten Menschheit herbei führen. „Die Juden sind unser Unglück“ hieß es. Klingt gar nicht so fremd zu der Aktion des ungarischen Ministerpräsident Viktor Orban, der verordnet die Universitäten zu schließen, „weil es viele Ausländer gibt“.

“First they came for the socialists, and I did not speak out—
Because I was not a socialist.

Then they came for the trade unionists, and I did not speak out—
Because I was not a trade unionist.

Then they came for the Jews, and I did not speak out—
Because I was not a Jew.

Then they came for me—and there was no one left to speak for me.”

– Martin Niemöller

In der Führung wird deutlich, wie Flucht in den 40ger Jahren aussah. Sie nennen es „Grenzenlose Gleichgültigkeit.“ Auch damals wurde die Füchtlingskriese bedauert, doch kein Land war wirklich ebreit, etwas daran zu verändern und die Juden aufzunehmen. Die Passagiere der St. Loius wurden von Cuba und den USA zurückgewiesen und erst im letzten Moment nach ihrer Rückkehr von den westlichen Küstenstaaten in Europa aufgenommen.

„Where to go? Nobody knows. To flee… as far as possible from the danger.”

Im Laufe der Besichtigung verstehe ich mehr und mehr, warum mir das Thema so nahe geht. Sein Kern ist ein Rassismus in brutalster Form, den es auch heute noch überall gibt, der durch den Virus entblößt wird. Es fühlt sich an, als würde eine blickdichte, dunkle Plane abgenommen werden, unter der der Westen so unantastbar schien, so fortschrittlich, so unbesiegbar. Plötzlich greift die Angst wieder über. Es wird gehamstert und misstraut. Der versteckte Rassismus, der schon durch die AFD wieder ans Licht gebracht wurde, wird konkreter und alltäglicher. Alle Asiaten sind Chinesen und vermeindliche Gefahr. Ob Touristen oder Einheimische mit Migrationshintergrund, ob infiziert oder nicht. Die chinesische Nachbarin wird plötzlich zur Gefahr und das Desinfektionsmittel zur Waffe. Wie sich dieser Rassismus anfühlt, habe ich in Ramallah gespürt. Zum ersten Mal in meinem Leben wurde ich als Gefahr wahrgenommen, weil ich Deutsche bin.

Ich bin die letzte, die das Museum verlässt. Als ich den Audio-Guide zurück gebe, frage ich den Angestellten, wie er diese Stimmung Tag ein Tag aus ertragen kann. „Nicht jeden berührt das Thema emotional. Die meisten sehen es als geschichtliche Informationsquelle.“ Tja. Zu viele Juden sind wohl in den letzten Monaten meine Freunde geworden, um nicht mit dieser (unserer) Geschichte mitzufühlen. Eine Geschichte, die sich immer realer anfühlt. Ich bin weit gereist, um von den Geschehnissen in meiner Heimatstadt München zu lesen; der Stadt in der Hitler nach seinem Militärsdienst mit seiner Politik begann.

“Alles ist besser als Bibi.”

Heute morgen bekomme ich einen Anruf. „Wähle Likud. `Ganz` ist die falsche Wahl. Er gehört der Linken an. Wähle Likud!“

Ein kurzer Blick hinter die Kulissen: Likud ist eine rechte Partei mit dem Vorsitzenden Benyamin Nitanyahu. Derzeit versucht er, eine “Immunität”/חסינות (Khasinut) zu ergattern, um nicht für die persönliche Nutzung des staatlichen Geldes verurteilt zu werden. Alle kennen die Story. Er wird auch verantwortlich gemacht für die gewaltvolle Behandlung der ethiopischen Gemeinschaft. Im Norden von Israel, in Kiryat Shmona wurde vor Kurzem von einer Dame um eine bessere gesundheitliche Versorgung gebeten. Bibis Reaktion darauf: “You are boring us!”. Es gab einen großen Aufruhr, doch in den Umfragen zählt Kiryat Shmona weiterhin zu einem der Bezirken mit den meisten Bibi Wählern. Er verspricht den Orthodoxen Juden finanzielle Unterstützung und dem Staat ihn zu beschützen, wie kein anderer.

Nach dem Anruf bin ich kurz überrascht darüber, dass sie meine Nummer haben. Nur kurz. Dann erinnere ich mich, dass „die Linken“ hier wie ein Schimpfwort verwendet wird und werde ich mir bewusst, wie aggressiv dieser Wahlkampf eigentlich ist. Es ist ein wahrer Hahnenkampf. „Wählt Blau-Weiß oder Erdogan“ lautet der Spruch der Opposition. Im Grunde gibt es nur diese zwei Optionen, um eine Regierung zu bilden.

Straßen reden kaum über etwas anderes. Mir wird erzählt von Zeiten, da haben sich Demonstranten mit Zelt und Sack und Pack auf eine der zentralen Boulevards begeben um dort für einige Wochen zu demonstrieren. Doch seit dem hat sich nichts zum Positiven gewendet. Das Leben wird immer härter.

Während ich auf meinen Hummus warte, spricht mich der Mann gegenüber an. Er hat vielleciht noch zwei Zähne und seine Unterlippe hängt ein wenig nach vorne. Er trägt das T-Shirt der Partei Likud. „Bestelle nicht zu viel, gehe sparsam mit deinem Geld um“ meint er zu mir, als ich zu dem Hummus auch noch Falafel und Salat bestelle. Ich frage ihn, wieso er für die Partei auf seinem T-Shirt arbeitet. „Es gibt Geld. Ich habe keine Wahl.“

Husam ruft mich an. Ich frage ihn, wen er wählen wird. „Die Araber wählen die Araber, die Russen die Russen, und die Juden wählen die Juden. Jeder die Gruppe, wo er dazugehört.“ Vor nicht allzu langer Zeit habe ich auch begriffen, warum das mit der Ein-Staat-Lösung für die meisten Juden keine Option ist. Denn dann sind die Araber plötzlich in Überzahl und die Juden verlieren die Mehrheit in dem Statt, den sie für sich aufgebaut haben.

Strategie steht vor tatsächlicher Demokratie, denn die Angst, dass Bibi nach 10 Jahren weiterhin Minister-Präsident bleibt, ist groß. Freunde von mir arbeiten bei der Opposition. Wirklich unterstützen tun sie deren Meinung auch nicht, „doch alles ist besser als Bibi“. So lautet die Devise. Das Land jauchzt nach etwas Neuem, nach Veränderung, nach Hoffnung. „Ich muss ständig daran arbeiten, nicht zynisch zu werden, bei dem was hier passiert. Ich will es weiterhin ernst nehmen, doch es fällt mir nicht leicht.“ Morgen ist der 3. Versuch eine neue Regierung zu wählen. Die Menschen werden ungeduldig.

Letztens habe ich einen Bekannten nach all den Büchern in seinem Schrank gefragt. „Geheimnisse“, Regelwerke, Erläuterungen rund um das Judentum. Außerdem die Tanach, die 3 heiligen Bücher. Er habe sie im Schrank stehen, doch es ist mehr ein Teil der Einrichtung, als das er tatsächlich darin liest, meint er. Er erzählt ein wenig von seiner Art, die Religion zu leben und weiht mich dann in ein Gerücht ein: Es liegt etwas in der Luft. Das Jahr 2020 soll einen großen Umschwung bringen.  In verschiedenen Schriften wird darauf hingewiesen, es gibt mehrere Zeichen von unterschiedlichen Quellen. Der Gallilee Sea soll den höchsten Wasserspiegel seit Jahrzehnten erreichen. Es wird ein Krieg herrschen, der schlimmer ist als das, was bisher besteht UND es wird keine Regierung geben. Ja. Man sagt, dass der Messias kommt.

Bei einer Sache kann ich ihm nicht widersprechen. Es hängt etwas in der Luft. Außer Abgasen, qualmt es von Frustration, Hoffnungslosigkeit und Agression. Freunde fragen mich, wie man denn Motivation finde. Auch ich spüre eine Unruhe, die mich die Tage über begleitet. Bin nicht hier und nicht dort. Will zu Hause sein, weg von all dem Geschehen, doch nicht allein sein. Will Menschen treffen, doch nicht reden. Ich bin müde, ausgelaugt. Ich versuche lieb zu mir zu sein und mich zu erholen. Aber von was? Von dem gescheiterten Versuch, die Grenze nach Jordanien zu überqueren? Von den hektischen Tagen in Ramallah? Von den fremdartigen Rufen auf der Straße? „Corona! Corona!“ schrien sie, als ich nur im Taxi an ihen vorbeifuhr. „They don’t understand! So stupid people! So closed minded! You are German so they think you have the Corona.”, meinte Rana. Ich durfe bei ihr und ihrer Familie schlafen. Sie waren einige der Wenigen, die zumindest gebrochenes Englisch sprechen. Ich wurde gut behandelt. Doch es fiel mir nicht einfach. Sie liebten mich vom ersten Moment an für meine europäische Herrkunft. Andauernd wurde von dem guten, fortschrittlichen Westen gesprochen. Sie gaben sich alle Mühe, mir vegetarisches Essen anzubieten und mir zu erklären, warum ich doch an Gott glauben sollte. Nach einem Tag hatte ich genug und bin mit den letzten paar Shekel nach Jerusalem gefahren. In mir kam ein Gefühl von Zuhause auf. Ich ging zu den halboffenen Ständen, die noch zu später Stunde geöffnet waren und fragte nach einem Keks mit Dattelfüllung. „Zum Wohl“ meinte der Verkäufer und ich verstand seine Geste. Ich bat beim nächsten Laden um meinen Becher mit heißem Wasser aufzufüllen und auch da war mir schnell deutlich, dass ich dafür nicht zahlen müsse. Ich erinnerte mich an den Moment, als ich das letzte Mal in einem Imbiss fragte, ob ich vom Wasserhahn trinken könne und der Verkäufer nur meinte: „Du darfst nicht. Du musst“.
Im Bus zum Hauptbahnhof saßen mir Vincent und Monika gegenüber. Sie waren verwundert, dass niemand den leeren Sitz neben ihnen nutzte, obwohl der Bus voll war. Also erklärte ich den zwei Touristen die Geschlechtertrennung bei der Sitzordnung unter den ortodoxen Juden. Ich wurde mir wieder bewusst, dass dieser Ort mir nicht mehr fremd ist. Ich war stolz darauf, ihnen den Weg zum Bus zurück nach Tel Aviv zu zeigen und es machte mir nichts aus, in dem vollen Bus die Stunde Fahrt zu stehen. Ich war einfach nur froh, ganz nah an meinem zu Hause zu sein.