Ich habe mir vorgenommen, der Wüste noch einmal Mal zu begegnen. Ihrer forschen, direkten Art und ihrer unergründbaren Weite. Ich habe mir vorgenommen, meinen ersten Eindruck nicht den ganzen Farbkasten füllen zu lassen. Ich würde ihr gerne Vertrauen schenken.
Das letzte Mal bin ich geflüchtet. Zum Glück. Doch mittlerweile habe ich mein Spinnennetz durch den Norden des Landes gewoben und fühle mich sicher dort. Die Menschen sind mir weniger fremd und ein paar Türen zeigen gen Süden. Vielleicht bin ich jetzt bereit, mich zu öffnen für diese fremde Welt.
Als das Friedenstreffen ein Ende annimmt, atme ich durch. Ich weiß nicht, wohin es geht, wo ich schlafe, was als nächstes passiert. Ich habe keinerlei Vorstellungen und fühle mich leicht. Rotem steht mit weiten Klamotten, einer Brille und einer schiefen Cap im Speisezelt und knabbert an den Resten. Ich fange an mit ihr zu quatschen, wir schauen den Kindern beim spielen zu und irgendwie sind wir schnell verbunden. Sie lädt mich zu einem Tee ein und wir quatschen bis in die Nacht hinein. Ich freue mich, mein Bett mit jemandem zu teilen. Am nächsten Morgen wache ich auf, die Zuckerrüben-Pflanzen bilden einen Meter über meinem Kopf eine Krone und die Sonne scheint mir ins Gesicht. Ich beschließe, noch 2 Nächte an diesem Ort zu bleiben und ihn auf mich wirken zu lassen. Wie bei meinem ersten Besuch in der Wüste, gibt es hier eine Gruppe junger Leute, die für die Touristen zuständig sind. Sie kümmern sich darum, dass der Ort schön ist, und bekommen dafür einen Schlafplatz, Essen, und einen Lohn. Vor einem Jahr hat Rotem das ganze in die Hand genommen, und den Platz neu aufgebaut, ihm Leben gegeben. Jetzt wohnen hier 6 Leute fest, die eng miteinander verbunden sind. Daneben gibt es Freiwillige, die die Buddhismus-Lehrlinge mitbringen um für sie zu kochen.
Ich bin jetzt also da. Wie ich wollte. Die Wüste auf mich wirken lassen und ihr eine zweite Chance geben. Ich bin zwar Gast von Rotem, doch sie ist mit anderen Dingen beschäftigt. Ich habe Erwartungen, dass die Verbindung vom ersten Abend sich durch גie Tage durchzieht, doch das ist nicht so. In ihrer Routine merke ich, wie fremd sie mir ist. Ich bemühe mich, meinen Fokus auf mich zu richten und mich von ihrer Energie zu distanzieren. Eine Trauer ist da. Eine Trauer, die mich wortlos werden lässt. Die mich zweifeln lässt. Die mich unsicher macht, sodass ich mich verstecken will. Ich nehme einen langen Spaziergang, spüre den weichen Sand, die spitzen Steine und die durchsichtigen Jungkristalle unter meinen Füßen. Trotz Winterzeit trage ich einen Tuch auf meinem Kopf um mich vor der Sonne zu schützen. Ich merke, wie all meine Gedanken an mir vorbei fließen, ihren Platz bekommen und weiterziehen. Als ich zurück komme ist die Trauer immer noch da. Ich suche Gespräche zu den Menschen, die mir warm begegnen. Ich teile mich mit. Die Trauer bleibt, sie ist stark und präsent, doch nicht mehr überwältigend. Ich spüre sie ganz klar, direkt neben meinem Herzen.
Ich entscheide weiter zu ziehen. Rotem bringt mich zur Hauptstraße und wir bedanken uns gegenseitig. Sie kennt immernocht nicht meinen Namen, und wenn wir uns wiedersehen möchten, dann muss ich zurückkommen. In dem Moment, in dem sie um die Ecke biegt, merke ich, dass ich meine Schreibsachen und mein Geld vergessen habe. Ich bin sauer auf mich selbst und beschämt. Rucksack und Geigenkoffer packe ich in eine Kuhle im Boden, versteckt von Sträuchern. Ich laufe zurück, querfeld ein, erinnere mich ganz genau, wo ich es vergessen habe und als ich den Rückweg antrete werden meine Schritte langsamer und ruhiger.
Ich mache die Tür auf, sehe erst nur einen Fuß, dann das zugehörige Gesicht. Jule liegt auf dem Boden, unter ihr eine Yogamatte, mit den gespreizten Beinen an der Tür. Sie grinst mich an. Nach zwei Sätzen weiß ich, dass sie Deutsche ist. Ich denke an mein Vorhaben der zweiten Chance, und beschließe offen zu sein. Ich fühl mich wohl mit ihr, sie zeigt mir die Gegend und wir sitzen am Krater, schauen in die Weite, und singen ein Lied:
Tür auf,
Fuß ins Gesicht,
kopf auf dem Boden,
Grinsegesicht.
In meinem Kopf singe ich weiter:
Ein Lächeln das bricht,
das deutsche Gesicht,
mit warmem Licht
vermischt.
Menschen suchen,
von allen Seiten strömen sie,
parallel und kreuz und quer.
Menschen finden,
an allen Orten dieser Welt,
ein Stück von sich im Hier.
Wir kaufen ein, kochen und es ist, als wären wir zu Hause. Als Tulu, der die Wohnung gehört, am Abend zurückkommt, riecht es schon nach Suppe. Wir sitzen auf dem Boden und reden über das Leben, die Natur, die Wüste. Wie viele, schätzt sie mich ein, auf dem Land aufgewachsen zu sein, in der Nähe der Berge.
Wir machen eine Tageswanderung in Stille. Zum zweiten Mal kommen alle Gedanken auf mich zu und ziehen weiter. Ich bin dankbar. Für meinen Weg bis hier her, für alles, was mich zu dem Menschen gemacht habe, der ich jetzt gerade bin. Für meine großartigen Eltern und meine Lehrer. Für die Dinge, für die ich nicht bereit war und für die Menschen, denen ich zu früh begegnet bin. Und dankbar für diejenigen, die mich herausgefordert haben mit ihrem Anders. Ich spüre Wärme und Liebe, und sehe mit einem Lächeln auf dem Gesicht zu, wie alles auf mich wirkt und langsam seinen Platz findet. Ich habe im Gefühl, dass sich ein Ende nähert, nur weiß ich nicht welches.
Mit schweren Beinen kommen wir zurück. Auf dem Rande des Ramot Kraters treffen wir auf einen jüdischen Schuljungen. Sein bunter Schal vor den Bergen der Wüste zieht mich an. Wir versuchen mit dem Finger, unsere Wanderroute nachzufahren, die von hier ausnur noch eine hauchdünne Linie ist. Er fragt, ob wir bei dem einsamen Baum gewesen sind, dem einzigen Baum weit und breit. Ich wusste nicht, dass er in aller Munde war. Wir geraten in das Standardgespräch des woher, und wie lange schon hier und was und wo jetzt. Er ist überrascht über meine Liebe zu meinem neuen Wohnviertel, das doch so chaotisch sein und gefährlich mit so vielen Sudanesen, die dort leben. Ich schätze ihn als Nord-Tel-Aviv Bewohner ein und daraufhin erzählt er mir seine Geschichte. Er ist in den besetzten Gebieten der West Bank geboren, wo sie nur von Menschen umgeben waren, die alle gleich waren wie sie. Seine Familie ist nach Tel Aviv gezogen, um das Andere kennen zu lernen. Doch die Stadt war hart und teuer und sie haben sich für den Süden und Mizpe Ramon entschieden. Er zeigt auf seine Schule, auf der Straße gegenüber..
Ich bin dankbar, nicht dazu zu gehören. Es gibt mir die Möglichkeit, die Geschichten von jeder Sorte Mensch hier zu hören. Keine(r) verurteilt mich für meine Präsens. Überraschend, als Deutsche. Doch irgendwie sehen mich die Leute hier als neutrale Instanz. Alle erzählen mir von ihrer Wahrheit und alle haben irgendwie Recht. Doch unter einander begegnen sie sich nicht. Sie erzählen nicht ihre Geschichten, und hören auch nicht zu. Ja, vielleicht war deswegen das Friedenstreffen letzte Woche so wichtig. Auch wenn ich mich gefühlt habe, als würden sie alle nur irgendwelche Floskeln austauschen und sich gegenseitig hoch loben für ihre unglaublichen Friedenstaten. Vielleicht kann ich ihren Werdegang zum Frieden überhaupt nicht nachvollziehen, denn ich identifiziere mich mit keiner ihrer Rollen. Bei dem Treffen kam die große Frage auf: „Was wäre, wenn der geborene Jude, doch zufällig als Palästinenser zur Welt gekommen wäre?“ und „Was sind wir bereit (von unserer Identität) aufzugeben?“ Als jüdisches Volk, das sich so sehr danach sehnt, Boden zu fassen und ihren Zusammenhalt findet, indem sie gemeinsam für ein Zuhause kämpfen. Als palästinensisches Volk, so nah der Tradition und dem muslimischen Glauben. Als Mensch, der gelernt hat, die Welt auf eine bestimmte Weise zu sehen, zu leben, zu erleben, zu lieben und zu hassen. Wie weit sind wir bereit, davon los zu lassen, um uns aneinander anzunähern?
„Ein halbes Glas Wasser, mit einem Tropfen schwarzer Tinte: schwarz
Ich fülle das Glas bis zum Rand:
immernoch schwarz
Ich überspüle das Glas mit Wasser so lange, bis die Tinte über den Rand hinausläuft, immer weniger wird und letztendlich die Schwärze verblasst.“
Ich lasse mich hier überschwemmen. Ich habe mich entschieden hier wirklich einzutauchen, denn ich will fühlen, was ich gesehen habe. Mein Herz braucht vertrauen um sich zu öffnen und mein Körper braucht Zeit, sich neu zu formen. Ich gebe Raum für Wörter, die mir in Deutsch kitschig vorkommen. Ich lerne die Reife der Früchte zu erkennen, auch wenn ihre Schale dick ist. Ich tauche in das Leben von Menschen, die mir neue Wege zeigen, begleite ihre Schatten. Ich schaue ihnen zu wie sie lieben und streiten, leben und wahrnehmen, reden und berühren. Ich sauge ihre Gastfreundschaft und Wertschätzung auf, ihre liebevolle, freie, kreative, praktische und spontane Art, bis mein Wasser eine andere Farbe annimmt.