Weiße Linien

„Hmklsgnfv“ Ich klimper mit den Augen, versuche sie aufzubekommen. Von draußen ist eine Stimme zu hören. „Ein Moment!“ rufe ich, ziehe mir ein T-shirt über und öffne die Wagentür. Ein Mann mit schwarzem Hut, Krausebart und langer Anzugjacke blickt mir entgegen. „ I am an Artist from California. I like your Truck.” Es ist 8 Uhr morgens und ich bin noch völlig verschlafen. Doch igrnedwie freue ich mich über diesen komischen Moment und ich lade ihn ein, die Wand mit weißer Farbe zu bemalen.

Er setzt sich auf den Boden und beginnt den Stamm eines Baumes anzutonen. Ich kann nicht anders, als diesen Moment mit meiner Kamera festzuhalten. Ein amerikanischer orthodoxer Jude sitzt auf dem Boden vor meinem Bauwagen und malt eine Landschaftsszenerie an die Steinmauer gegenüber. „I grew up in the mountains. I only know how to paint landscapes.” Er tupft dem Baum eine Krone und führt vor. „I cound’t stand the materialism of the States anymore. I’ve moved to Zfat a few months ago. Shouldn’t go back to the States. They don’t like happy people. They think I am crazy” Schon wieder einer aus der Hasidim-Gruppe. Neben den Baum malt er die Köpfe von Blumen. „Could you bring me some water, the paint is a bit thick.” Ich fülle einen Becher, setze mich in den Schatten des Wagens und schaue ihm zu wie er die graue Mauer zum Leben erweckt. Zfat… Die heilige Stadt im Norden, gebaut auf einem Hügel, mit Sandstein-Mauern und blauen Türrahmen. Sie erweckt die Ilusion, hinter ihren Häusern läge das Mediterrane Meer. Gemeinsam mit Jerusalem, Tiberias und Hebron wird sie schon seit Jahrhunderten von Juden belebt.

Der Künstler legt den Pinsel ab und verabschiedet sich mit der selben Selbstverständlichkeit, mit der er mich morgens um 8 geweckt hat. Ich zeige ihm den Weg zum botansichen Garten und stelle mir vor, wie er sich dort abends einen Baum sucht, auf dem er schlafen kann. Was ein schräger Typ. Jetzt bin ich auf jeden Fall wach.

Neue Welt

Mit gespitzten Ohren lausche ich meinem Rhythmus. Er ist langsam, stabil, wiederholt sich. Ich finde ein paar Töne dazu. Lang, warm, simpel. Auch sie wiederholen sich. Nur die Worte sind mir undeutlich. Slavisch angehaucht, doch verstehen tu ich sie nicht. Welche Form von Musik ist das überhaupt? Wer hört sich sowas an? Sind diese paar Töne genug?

Ich habe das Gefühl, meine Klänge rechtfertigen zu müssen. Ich habe das Gefühl, sie bräuchten einen Namen. Nur dann kann ich sie nicht mehr einfach wegschieben. Dann sind sie wirklich da.
Doch bis dahin wanke ich zwischen Schamgefühl und schlechtem Gewissen, folge den Klängen, die Namen haben, so lange bis ich den meinen verliere. Bis ich beklaut werde, mich von der Sonne verbrennen lasse, oder an der Rinde eines Baumes verletze. Dann wache ich auf und werde mir klar, dass ich auf mich achten muss. Es ist wie ein Moment der Legimitation. Endlich darf ich meine Bedürfnisse ernst nehmen. Wieder darin vertrauen, dass ich schon weiß, was gut für mich ist.

Zu Anfang des Auslandsjahres hatte ich einen Bonus. Ich war ein kleines Kind, neugierig auf eine neue, fremde Welt, bewusst über ihr Unwissen, im Reinen mit der Position der Lernenden. Und plötzlich meine ich, die Wissende sein zu müssen. Meine Zeit ist abgelaufen, und alles, was ich noch nicht kennengelernt habe gilt als Scheitern.

Ich erlaube mir nicht mehr, unwissend zu sein. Als hätte ich plötzlich Verantwortung für die ganze Welt um mich herum, als müsste ich etwas zurückgeben. Als wäre die Zeit den Annehmens abgelaufen und jetzt wäre Zahl-Zeit…

Die alte Wunde öffnet sich und wirft Licht auf die Angst, nicht genug zu sein, nicht geliebt zu werden. Bis Raviva auf Pause drückt. Wir treffen uns zu einem Abschluss-Gespräch des Jahres. Sie will sich bedanken für meine Arbeit. Sie erinnert an den Moment des letzten Konzertes, bei dem ich neben dem blinden Pianisten während unserem piazolla-Duo auf die Knie gegangen bin um ihm das Zeichen für ein Ritardando zu geben. Was für ein Zeichen ich damit gesetzt hätte. „Nur du hättest mit ihm spielen können. Du hattest keine Auftrittsschuhe, aber das war dir egal. Warst in Socken auf der Bühne.“

Sie spricht weiter und weiter, sagt mir, wie sehr sie meine Arbeit des abgelaufenen Jahres geschätzt, meine Anwesenheit genossen hätte. Meine Simplizität, Ehrlichkeit, Menschlichkeit. Meine Art, jedem Menschen auf Augenhöhe zu begegnen. Meine Stimme und mein Geigenspiel, meine Ideen und meine Offenheit…

All das scheint mir so selbstverständlich, denn so bin ich halt. Ich vergesse, dass ich genau richtig bin, auch wenn ich nicht meine Hundert Prozent gebe. Dass mein 50 % für andere manchmal völlig ausreicht. Dass ich nicht herausstechen muss um jemand zu sein. Wie viel ich gebe, in dem ich bin.

Es gibt kein Limit im Ich. Ich bin das und das und das und das. Kein Oder, nur Und. Ich bin jetzt, ich war und ich werde sein. Ich bin, weil ich war. Und mich gab es nicht, wenn es mich nicht auch geben wird.

Langsam beruhigen sich meine Gedanken. Die Tage in Tel Aviv, wo ich einfach mein eigenes Ding durchziehe tun mir gut. Wo ich ins Bett gehe, wenn ich müde bin, esse, wenn ich hungrig bin, mit Leuten spreche, wenn ich gesprächig bin. Meine Wäsche wasche, ein Fahrradschloss kaufe, die Stadt dokumentiere. Obst und Gemüse am Markt vor den Chlor-Bächen rette, verdächtige Frauen auf der Straße nach Gay-Parties frage, Freunden in Isolation Essen bringe, schreibe.

Schreibe, über all die Erlebnisse, Eindrücke, Gefühle und Gedanken der vergangenen Wochen. Ihnen einen Platz gebe, sie abwiege, in Relativität setze zu meiner Geschichte. sSchreibe über die Demo gegen rassistische Polizeigewalt, die Geschichte über den Mord auf der Gay-Pride 2015, den Humus mit Yoni, das Schreien der Pfaue, den Kuss mit Merav, die lila Blüten und hohen Sträucher beim Blick aus dem Zelt, das spanische Lied mit Yaara, den roten Himmel an der Grenze zu Libanon, die Wanderung mit Yuval, die rot-grünen, gezwirbelten  Baumstämme, den israelischen Alon mit persischen Eltern im Kofferaum des verstaubten Trucks, die Millionen an Mücken, die Flüsse und glasklaren Teiche, die Feigenbäume und Eukalyptus-Schatten, die Spaziergänge mit Shemer…

Ich bin so dankbar über all das was war. All die Menschen, die mir ihr Anders gezeigt haben und ein Stück Anders in mir ein Zuhause gefunden hat.

Mit jeder neuen Melodie, die ich höre, spüre ich einen versteckten Ton in meinem Körper resonieren. Mit jedem nackten Körper, den ich sehe, traue ich mir, den eigenen etwas genauer anzuschauen. Mit jedem Lebensweg, dem ich begegne, wird mein eigener ein Stückchen realistischer. Mit jedem Anders, das ich kennenlerne, fange ich an ein Stückchen mehr zu leuchten. Doch bevor nicht jemand diese Punkte berührt und ihnen einen Namen gibt, sind sie Schatten. Sie verfolgen mich, tauchen immer wieder auf, machen mir Angst. Ich gehe weiter, suche nach Legitimation, Resonanz, Wiedererkennung, um diesen Schatten Form und Farbe zu geben. Aber das reicht mir nicht. Ich will darauf warten, bis mir jemand sagt, ich wäre nicht allein damit auf dieser Welt. Dass ich einer Ilusion nachrenne, irgendeinem Bild von Realität, das wir uns als Gesellschaft gemeinsam kreiert haben. Ich will der Welt ehrlich begegnen. Meine Schatten anleuchten, abtasten,  ansprechen, aushorchen, annehmen. Den ungehörten, undeutlichen Stimmen in mir Ausdruck schenken, ihnen Worte schenken, sie legitimieren, strahlen lassen. Dem Menschen, der ich heute bin, zu glauben. Meinen Ausdruck von Leben zu einer Geschichte werden lassen.

In der Musik #3

Mit Mahmad gehen wir durch die Straßen der Altstadt Jerusalems. An einem Vorplatz einer Kirche setzen wir uns auf die Stufen und packen die Instrumente aus. Ein Mann setzt sich mit einem Stuhl schräg hinter uns. Frauen mit Kopftüchern und  langen Kleidern laufen vorbei, Arbeiter, Kinder… Sie filmen und machen Selfies. Als Mahmad ein palästinensiches Lied A Capella singt, bleiben plötzlich alle stehen. Für einen Moment wird ruhig auf dem Platz, ein paar Sekunden ist alle Aufmerksamkeit nur auf ihm. Die Oud kommt dazu und alles geht seinen gewonten Gang.

Eine Digeridoo-Verkäuferin hört uns und setzt sich dazu. Sie erzählt uns von DEM Musikladen in der Altstadt. Wir folgen ihr zu ihrem Händler und während ich mir die Ouds durchschaue, fangen die anderen an, in der engen Gasse persische, türkische und arabsiche Lieder zu spielen. Der Verkäufer neben an singt mit und filmt sie.

Ich blicke die Oud an und schaue ins Leere. Wie eine Neubauwohnung wirkt sie kahl und ohne Geschichte. Schöne Architektur, frisch gestrichene Wände und wohlgeformte Rahmen. Aber ohne Möbel. Will ich aus dem Koffer leben, bis endlich der Schrank ankommt? Will ich diejenige sein, die die Teppiche auslegt, Bilder aufhängt, Pflanzen bringt, der Wohnung Farbe schenkt?
Was passiert, wenn ich die Oud kennenlerne, warmspiele? Kann ich ihr den Klang entlocken, den ich mir wünsche?

Nach einer Stunde hin und her entscheide ich mich die Oud zu kaufen. Natürlich habe ich nicht genug Geld dabei und meine digitalen Wege sind versperrt. Also verlassen wir den Laden ohne Oud und ich folge den anderen mit schlechtem Gewissen.

Roni läuft neben mir. „Ich find es gut, dass du nicht einfach kaufst.“

Wir kommen an einem Geldautomaten vorbei. Die anderen ziehen weiter, Roni lächelt mich an und stellt sich wartend, mit der Gitarre im Arm hin. Während ich Geld abhebe spüre ich ihre Abwesenheit, ich drehe mich um und sehe wie sie aus einem versteckten Winkel in meine Richtung blickt, mich annickt und irgendwo hineingeht. Ich beende meine Transaktion und gehe zum Nebenhaus. Durch die Glastüre sehe ich Roni mit zwei Damen sprechen. Eine von ihnen kommt auf mich zu und öffnet mir. Ich trete in eine Galerie, mein Blick direkt auf den roten Baum gerichtet. Hinter ihm ein türkiesener Hintergrund, der den Weg aus dem Bild hinaus antont. Echt fühlt es sich an. Als wären die extremen Farben, die verschwommenen, unfertigen Formgebungen das Abbild einer Landschaftsszenerie der natürlichsten Form. Meine Zweifel verwehen, meine Fragen lösen sich auf. Ich bin plötzlich ganz klar.

Es gibt nur einen Ausstellungsraum. Er ist gefüllt von dem Werk einer Künstlerin, die vor ihrer Immigration ihre Vorstellung von dem Land aufgemalt hat. Ich lächele. Den ganzen Tag über habe ich das Gefühl gehabt, irgendeiner Vorstellung in meinem Kopf hinterherzulaufen, habe mich wie das 13-jährige Mädchen gefühlt, das in Amsterdam von einem Touristenshop zum nächsten läuft um genau den richtigen Pulli zu finden und am Ende müde und frustriert, ohne Pulli, nach Hause geht. Oud kaufen, hin oder her, erscheint mir plötzlich völlig unwichtig. All die Mühen, etwas zu kreieren, das noch nicht ist, gebe ich auf. Irgendwann werde ich der Oud begegnen, die mich begleiten soll.
„Danke, dass du mit mir gewartet hast, Roni!“
– „Ich wollte einfach mit dir sein.“

Wir treffen die anderen und suchen uns einen Platz zum spielen. Er sitzt uns gegenüber, etwa auf 5 Metern Abstand, auf einer Steinbank. Er trägt ein weißes Hemd, Anzughose und eine dunkle Kipa auf dem Kopf. Sein Name ist Abraham, so wie Shelmas Vater. Auch er ist Teil der Breslov-Hasidim-Gruppe.

Vor ihm hat er eine Matte ausgebreitet, mit Bausteinen darauf und anderen Spielsachen. Sein Sohn kommt auf uns zu und wirft eine Münze in den Gitarrenkoffer. Ich erinnere mich an den Moment gestern, wie Abraham, Moshe ganz fest in den Armen hielt und mit geschlossenen Augen dem türkischen Sufi-Lied „Adimiz“ wiegend lauschte. Etwas ist besonders an ihm. Sein warmer dankbarer Blick, seine Aufmerksamkeit für die Musik. So wie Shelma hat auch er das orthodoxe Leben wohl mal in Frage gestellt. Er hat sich wohl wieder für ein religiöses Leben entschieden und ihm in die Augen zu schauen ist etwas ganz besonderes für mich. Normalerweise gucken die Männer mit Schläfenlöckchen und Anzug zu Boden, wenn sie an mir vorbei gehen. Seine Offenheit für unsere Begegnung lässt mein Herz weich werden. Ich höre auf die Menschen zu zählen, die bei uns stehen bleiben. Ich trenne meinen Selbstwert von dem Klang der fallenden Münzen und denke an die Worte von Roni. Wir sind hier, um mit den Menschen einen Moment zu teilen. Wir wollen ihnen ein Geschenk geben, etwas, dass sie sonst vielleicht nicht bekommen. Inspiration, Liebe, Mut, Frohsinn, Berührung…

Ich blicke Abraham in die Augen und will für ihn spielen. Genau jetzt ist der Moment für unser neues Lied. Ich packe die Tambura und schon die ersten Töne fühlen sich genau richtig an. Ich ermutige Shelma, den von ihr geschriebenen Text zu singen. Roni und der Daf-Spieler geben uns Harmonie und Rhythmus und gemeinsam tauchen wir ein. Die Passanten lassen sich verzaubern und sind für einen Moment ganz bei uns. Ich denke an meine Mama. Ich stehe auf, beginne zu unserer Musik zu tanzen und spiele weiter, fiddle und singe, tanze und lache. All die Schwere der letzten Tage fällt von mir ab.

Abraham klatscht und kommt auf uns zu. Er versucht sich mit Jiddisch, doch sieht meine fragenden Blicke. Während er seine Anzughose über seine andere Hose zieht erzählt er mir von den Gedichten, die er für Moshe schreibt. Er wünscht sich, sie würden Lieder werden.

In der Musik #2

Ich bin einfach gegangen. Immer wieder auf’s Neue habe ich versucht, gegen den Lärm der Straße anzukämpfen, Kreativität aus mir heraus zu saugen, die Menschen zu amüsieren, doch es ist mir einfach nicht geglückt. Ich war leer.

In dem Moment, in dem ich aus dem Kleinbus aussteige und die Straßen meines Viertels betrete, fällt mir ein Stein vom Herzen. Die Straße ist beinah leer, es ist ruhig und das Sonnenlicht scheint auf die hellen Häuser. Ich muss nichts mehr. Ich darf einfach nur sein.

Abends kommen die Mädls heim. Sie kochen sich etwas und setzen sich auf den Gehsteig vor der Tür. Aus dem Wagenfenster gelehnt, erzähle ich, was in mir vorgeht. Ich glaube, ich habe zum ersten Mal eine Gruppe gefunden, in der ich mich so geborgen fühle, dass ich weiß, dass meine größten Zweifel uns nicht trennen werden. Ich habe nicht das Gefühl für meine Wertschätzung kämpfen zu müssen. Ich weiß, dass meine Energie wiederkommen wird. Dass ich wieder bereit sein werde zu spielen, verrückt zu sein, auszurasten und loszupreschen. Zu scheinen, zu strahlen und zu inspirieren. Doch gerade will ich einfach nur sein. Die lauwarme Nacht auf mich wirken lassen, mich von ihrer Ruhe tragen lassen.

Ich nehme den Eimer Farbe, den ich auf der Straße gefunden habe, tauche den Pinsel ein und fange an, die Wand des Trainingsplatzes gegenüber zu bemalen. Die Formen sind lose, ohne Ziel. Pinselstrich für Pinselstrich versuche ich meine Urteile gegenüber mir selbst abzulegen, mich zu beruhigen, mir Halt zu geben. Formen zu finden, die mir gut tun. Mich mit den Kreisen und Rundungen anzufreunden, die vor mir entstehen.

Shemer kommt mit Layla vorbei, seiner neuen Mitbewohnerin. Ich springe auf und umarme ihn ganz lang und fest. „Nein, nein, du bist doch voll Corona!“ lacht er halb ernst, doch ich lasse ihn nicht los. Ich stelle die Mädls vor und erzähle von unserem gemeinsamen Musikmachen.

Plötzlich bekomme ich Lust zu singen. Ich renne in den Bus und hole meine Geige. Meine Hand zittert, während der Bogen über die Saiten streicht. Ich will der tollen Sängerin Layla neben mir imponieren, sicher gehen, nichts zu vergessen von unserem Arrangement.

Als wir die Instrumente weglegen und zu dem Akapella-Teil übergehen, sind wir alle komplett da. Mit geschlossenen Augen schenken wir alle Aufmerksamkeit den Harmonien, lassen uns von ihnen tragen, lassen sie leuchten. Fast flüsternd lassen wir das Lied ausklingen, öffnen unsere Augen und strahlen uns an. Ich atme tief durch und bin einfach nur dankbar.

In der Musik #1

Ihre Stimme klingt unruhig am Telefon. Sie antwortet mir stur auf Englisch, so wie ich stur nur auf Hebräisch mit ihr spreche. Ich gebe das Telefon an seine Besitzerin zurück und schaue mich am Bahnhof um. Für 18:00 haben wir uns verabredet. Ich warte. Plötzlich spricht jemand mit mir. Ich bin kurz durcheinander, dann macht es klick. Die Kameraperspektive unseres Zoom-Gesprächs verworfen, überrascht mich ihr Anblick. Klein kommt sie mir vor. Auf der vorderen Hälfte ihres Kopfes hat trägt sie kurzgschorenes Haar, den Rest hat sie über die linke Schulter gelegt. Dazu eine weiße Bluse mit burlgarischem traditionellen Muster und eine gefärbte Chordhose mit zwei riesen Löchern an den Knien. Auf dem Rücken ein Rucksack und auf der Schulter einen Intrumentenkoffer.

Wir gehen zur Bushaltestelle und ich bin genervt davon, dass sie immernoch auf Englisch mit mir redet. Als ich sie darauf anspreche, erklärt sie mir, sie seie das gewöhnt. Zwei mal in der Woche verteilt sie das gerettete Gemüse, das vom Markt aussortiert wird in Kisten um diese an Familien zu geben, die in dieser schwierigen Phase kein Geld für Essen haben. Dort redet sie vor allem Englisch. Ich solle es bitte nicht persönlich nehmen.

Wir steigen in den Bus in Richtung Kfar Hasidim und sie beginnt erneut auf Englisch. „I know this Town. I grew up there, you now? Few of the happiest years in my childhood. I had the room with the view to the mountains. But then we left to Jerusalem.”.
“Lama?”
“I come from an ultraorthodox family, we are Breslov-Hasidim. We used to sing a lot, music was a big part of my life. My parents moved here when I was three, but as my mom was from a different branch, the group here didn’t accept her. She never really felt really at home in this town, so after three years we moved back to Jerusalem” Ich beginne sie ein Stückchen mehr zu verstehen. Ihre unruhigen Bewegungen, die ausweichenden Blicke.

Wir kommen in dem kleinen Dorf an, steigen aus dem Bus und schauen auf einen leeren Spielplatz. Da kommt Roni, Barfus, mit flatterndem Rock und einem Grinsen auf dem Gesicht auf uns zu. Sie umarmt uns freudig und wir machen uns auf den Weg zu dem unbelebten Event-Zelt ihres Vaters mit dem Kunstrasen, den bunten Scheinwerfern und der getrockneten Hundekacke.

Abends singen wir bulgarsiche Lieder. Es fühlt sich anders an mit Shelma, irgendwie mühsam. Sie wirkt unaufmerksam, und mir fehlt das „Zusammen“ in der Musik. Ich denke an die verrückte Situation, in der wir uns befinden. Vor ein paar Wochen hat Roni uns einfach jede Einzelne gefragt, ob wir eine Band gründen wollen. 4 Frauen, die Musik lieben. Und jetzt sind wir hier.

Ich denke an unser erstes Treffen vor einer Woche, nur Roni Shahar und ich. „Ihr scheint mir wie drei verlorengegangene Schwestern“, meinte Ronis Mutter als sie uns drei in der Küche sah, wie wir versuchten, den misslückten Pfannkuchenteig zu verschiedensten anderen Teigvarianten umzuformen, um ihn ja nicht wegzuschütten. Im Laufe der zwei Tage im Dorf Hasidim sind wir uns tatsächlich so nah gekommen in der Musik, als wäre es das Natürlichste und Übernatürlichste zur gleichen Zeit. Wir sind uns gegenet auf den gemeinsamen Wellen an Energie, den einfachen Rhythmen, den weichen Melodien und Mantramäßigen Verläufen. Ich habe unglaublich genossen von dem gegenseitigen Zuhören und dem Genuss an Stille. Und jetzt ist es irgendwie anders. Härter, schneller, angespannt.

Am nächsten Morgen kommt ein weißes Auto vorgefahren. Aus dem Fenster grinst und Shahar zu. Wir anderen drei sitzen in Unterhosen auf der Holzbühne des Zeltes und klimpern vor uns hin. Ich springe auf und falle Shahar um den Hals. Eine Vorfreude kommt in mir auf, über ihre Kreativität, ihre weiche Art und ihre gespitzten Ohren. Sie setzt sich zu uns und auch bald ist ihr klar, dass dieses Mal etwas anders ist. Die Magie unseres leztzten Treffens scheint aufgelöst. Unsere Dynamik gebrochen.

Nach dem Mittagessen und einem drückenden Schweigen vor dem viel zu lauten riesigen Party-Ventilator überrede ich die Gruppe, ans Wasser zu fahren. Mit Sonnencreme auf der Nase laufen wir durch den kleinen Wald, den Bach entlang. Der Lauf der Wege, die Farben der Blätter, die Höhen der Bäume; alles kommt mir seltsam bekannt vor. Ich fühle mich plötzlich ganz nah der Landschaft, als kenne ich den Ort. Es waren wohl die Juden aus Europa, die diesen Ort bepflanzt haben. Der Ort ist Beispielhaft für die verqueerte Vegetation des Landes. Kaum eine der Pflanzen, die für mich zu einem Wiedererkennungszeichen des Landes geworden sind, hat es hier ursprünglich gegeben. Nicht der Eukaliptus, der Fikus, die Nadelbäume, der Bambus, die Bougainvillea, usw. In der Tanach wird von 7 Spezien geredet, die natürlicherweise in dieser Region wachsen: Weizen, Gerste, Weinstöcke, Dattel-Palmen, sowie Feigen-, Granatäpfel- und Olivenbäume. Wo wir gerade sind fühlt sich an wie ein Ausflug in ein anderes Land.

Ein Stückchen abseits von den Grillparties finden wir ein paar Steine im Schatten. Ich lege meine Sachen ab, ziehe mich aus und steige in das kühle Wasser. Der Bach ist flach und hat etwas ruhiges, idyllisches. Pflanzen hängen von allen Richtungen ins Wasser, die Sonne scheint durchs Blätterdach und mustert das klare Wasser. Shahar taucht neben mir unter, schöpft sich das kühle Wasser über die Stirn. Die Sonne lässte die Tropfen glänzen auf ihrem Haar glänzen und ihr Lächeln ist genussvoll und warm. Sie sieht, dass ich immernoch nicht untergetaucht bin und beginnt mich mit Wasser anzuspritzen. Ich genieße diese kindliche mädchenhafte Verspieltheit. Wie damals im Norden merke ich, wie mein Kopf durch das kalte Wasser wieder klar wird und ich nach den trägen Mittagsstunden erwache. Ich gehe in die Hocke, das Wasser bis zum Bauchnabel, und fange an zu singen. Shahar folgt mir, reagiert auf meine Melodien, begleitet sie. Roni taucht ein und legt ihre helle Stimme über unsere gregoriansichen Gesänge. Gemeinsam tauchen wir ein, in eine andere Welt. Unsere Töne verweben, sind neugierig, herausfordernd, weich und kristallen. Wir werden zu Nymphen in einer Höhle vor Hunderten von Jahren. Die Magie unseres letzten Treffens kommt zurück. Shelma sitzt neben uns, doch sie klingt abseits. Ihre Melodien tief und rauchig, irgendwie fremd.

Wir sinken in die Welt des Spiels. Wir wechseln von einer Rolle zu Nächsten, schneiden Grimassen und testen die Grenzen unserer Stimmen. Wir sind Affen und Nymphen, Monster und Ritter, Ratten und Tänzer zur gleichen Zeit. Und Shelma ist irgendwie dabei. Greift unsere Ideen auf und wiederholt sie schüchtern.

Mit knurrenden Mägen und müde von den imaginen Reisen fahren wir heim.

Am nächsten Tag fliehen wir noch vor dem Mittagstief aus dem heißen Zelt. Shahar sitzt schweigend am Steuer. Ich spüre, dass sie sich nicht wohl fühlt. Ich suche nach der passenden Musik und lege Shantel auf. Die undefinierte Stimmung bleibt in der Luft hängen. Die Musik fühlt sich an wie ein Bauer, der seinen sturen Esel versucht anzutreiben.

Auf dem Weg kommen wir den Feldern von Ronis Vater vorbei und klauben die Reste der Saison auf. Barfus stapfe ich durch den Schlamm und suche nach den Pomelos, die noch nicht von den Tieren gesquated wurden. Zurück an der Radiostation des Autos spüre ich in mich hinein und merke wonach ich suche. Ich lege Alama von Fatoumata Diawara auf und ihre Musik füllt das Auto mit einer weichen, ruhigen Stimmung.

Am selben Platz angekommen kühlen wir uns wieder ab, doch die Gruppe ist gespalten. Roni und Shelma folgen dem Bach, bis sie nicht mehr zu sehen und zu hören sind. Ich finde keine Ruhe, kann den Zauber des Ortes nicht aufnehmen. Leise klettere ich um Shahar herum, die auf den Steinen liegt, mit Blick in den Himmel gerichtet. „Darf ich etwas mit dir teilen?“ Und dann erzählt sie mir von ihren Zweifeln an der Gruppe und an Shelma.

Als die beiden zurückkommen schlage ich vor, eben zusammen zu kommen und uns ausztauschen, wo wir uns gerade befinden, wie wir uns fühlen. Ich spüre, wie ich für diesen Raum kämpfen muss. Shelma will endlich Musik machen und nicht wieder nur reden. Das würden wir doch eh die ganze Zeit machen. Roni un ich bestehen darauf und endlich Shahar erzählt von ihren Zweifeln. Doch was sie mit mir geteilt hat, bleibt ein Geheimnis.

Ich merke, wie unsicher und gebrechlich die Freundschaft der Gruppe noch ist. Die pure Ehrlichkeit scheint noch zu brutal.

Zuhause?

Ich wache auf von der Hitze. Es ist 9 Uhr morgens und der Bauwagen steht mitten in der Sonne in Tel Aviv. Ich blicke mich um und genieße die neue Ansicht. Die wenigen Klamotten einsortiert, Kulturebeutel ausgeräumt und der Inhalt auf dem kleinen Regal neben der Kompost-Toilette ausgebreitet, die paar Tassen und Schüsseln von Tadita aus Beit Hilel zu dem Geschirr platziert. Ich mache ein Foto für Ayca. Mir wird heiß, also Zeug packen und raus hier. Die Tür geht zu einem abgesperrten Bolzplatz auf. Dahinter ist ein kleiner Park. Dunkelhäutige Menschen trainieren an den Turngeräten oder sitzen auf den Wiesen. Ab und zu kommt jemand mit meiner Hautfarbe vorbei, mit einem Hund an der Leine. Ich lasse die Arme um mich schwengen, Balangsiere auf einem Bein, dehne meine Hüften und rolle mich Wirbel für Wirbel nach oben. Nach ca. 20 Minuten fühle ich mich bereit für den Tag. Ich springe auf mein Fahrrad und fahre in Richtung Markt. Die Straßen sind belebt wie eh und je, doch der Markt strahlt Gemütlichkeit aus. Wo ich mich sonst an den Touristen vorbei drängeln und deutschen Gesprächen ungewollt lauschen muss, ist jetzt freie Bahn. Ich hole mir eine Wassermelone und Loquat, kaufe Basics für meine neue Küche (Tahini, Honig, Hafermilch, Roggenmehl, Gemüse für einen Salat) und mache mich auf den Weg zum Strand. Ich packe mein Zeug unter einen Sonnenschirm und versuche die Melone zu zerbrechen. Sie gleitet mir aus den Händen und die Schale landet im Sand. Die Leute um mich herum scheinen nichts mitzubekommen, also beschließe ich, meine bekannten Methoden über Bord zu werfen und beiße einfach rein. Sie ist zwar nur ein Viertel ihrer vollen Pracht, doch umso mehr ich von der Kante abgegessen habe, umso tiefer muss ich mit meinem Gesicht in das rote Fleisch eintauchen, um den richtigen Winkel zum abbeißen zu finden. Gegen Ende ist mein gesamtes Gesicht voll von rotem Saft. Ich fühl mich tierisch. Etwas unbehaglich und mit gesenktem Kopf gehe ich zum Meer, tauche ein und spüle mein Gesicht mit dem kühlen Wasser ab.

Ganz nah am Strand besuche ich den Menschen, der hoffentlich meine Kameras wieder in Ordnung bringt. Ein paar Blocks weiter gebe ich die Filme, hole mir eine Schaumrolle für meine Faszien, Tropfen für meinen Bauch und düse nach Hause. Mit jeder erledigten Sache, fühle ich mich ein Stück weit geordneter, meine Gesichtszüge werden weich und ich habe das Gefühl, wieder Boden unter den Füßen zu bekommen. Auf dem Weg klatschen mir Fliegen ins Gesicht und in die Augen. Sie versammeln sich auf meinen Beinen und fangen an zu jucken. Als ich nach Hause komme, sind sie verschwunden. Mit Laptop und Notizbuch lege ich mich auf die Wiese und lese für meine Bachelorarbeit. Was bedeutet es seine Identität zu finden, wenn man von mehreren Kulturen umgeben ist? Ich kann nicht anders, als den Text mit meiner Situation zu vergleichen. Nach ein paar Seiten werde ich müde und meinen Augen fangen an zu brennen. Ich lege mich hin, den Laptop unter meinen Beinen und döse weg.

Jemand redet mit mir. Er meint ich solle aufpassen, dass mich keiner beklaut. Ich taste nach meinen Laptop und atme tief durch. Alles da. Ich danke ihm. Er beginnt ein Gespräch, doch ich bin zu müde um darauf einzugehen. Ich drehe mich weg und beschäftige mich mit mir selber. Nach ein paar Minuten sitzt er immer noch da. Sein Hebräisch ist brüchig, er nuschelt und verschluckt die Hälfte der Wörter. Das Gespräch über die unerträgliche Sonne ist bald ausgeschöpft und da ich ihn will nicht die typischste aller Fragen stellen will, weiß ich nicht, was ich sagen soll. Nach einer kurzen Stille mache ich es also trotzdem und erfahre, dass er ein Flüchtling aus Erithrea ist. Er arbeitet auf dem Bau, von daher die Wunde an seiner Oberlippe und an der Schläfe. Seit 14 Jahren lebt er hier. Sein Visa muss er jeden Monat erneuern.  „Es gibt Geld“ meint er, „doch keine Möglichkeit, Einwohner zu werden“. Ich korrigiere ihn bei dem Wort „תעודת הזהות  – Personalausweis“ und merke wie er mir zustimmt, aber nichts an seiner Sprache verändert. Also spreche ich ihn drauf an und bitte ihn, mir genau zuzuhören. Er wiederholt mit Sorgfalt, was ich sage. Seine Augen beginnen zu leuchten. Er folgt meinen Bewegungen zu den Vokabeln und lässt sich vollkommen darauf ein. Er scheint so dankbar, dass es mich zum denken bringt. Wie oft wird er wohl wirklich die Chance gehabt haben, mit so einer Sorgfalt sich der Sprache zu widmen? Von jemandem mit aller Aufmerksamkeit zu lernen, anstatt aufzuschnappen, was auf der Straße oder im Amt für Asylanträge gesprochen wird.

Natürlich bekommt er keinen Sprachkurs oder sonstige Hilfe angeboten, sich zu integrieren. Alles baut darauf auf, das er das Land irgendwann wieder verlässt und hier nur eben Zwischenhalt macht. Als Flüchtling gibt man hier 20 Prozent seines Gehaltes ab, sodass, wenn man zurück in seine Heimat will, eine Reserve angesparrt hat.

Ich frage ihn nach seiner Nummer und biete ihn an, uns morgen zu zum Hebräisch lernen zu treffen. In Gedanken singen wir schon hebräische Lieder und ich bringe ihm all meine brillianten Lern-Techniken bei. Doch schon bei unserer ersten Stunde wächst meine Frustration mit jedem fragenden Blick. Meine Lernwege scheinen ihm völlig fremd. Er wirkt auf mich wie der 14-jährige Junge, der damals sein Land verlassen hat und vor völliger Fremde steht. Ich denke an meine Bachelorarbeit und gebe mir einen Ruck. Na los, sei ein Teil seines Zuhauses!