Das Fest der Lichter

„Frohe Weihnachten“ sagt Ruti, und drückt mir einen Sekt mit Weihnachtsmann drauf in die Hand. Wäre ich in Deutschland, hätte mir diese Geste wohl eher wenig bedeutet. Wahrscheinlich hätte ich mich innerlich sogar aufgeregt, dass jemand damit den den kapitalistische Markt unterstützt und das obwohl ich nicht mal trinke.
Doch dieses Mal hat es eine andere Bedeutung für mich. Im jüdischen Alltag, wo alle „hanuka“ feiern, jeden Tage eine der 9 Kerzen anzünden und Krapfen essen, sehne ich mich nach meiner eigenen Tradition. Nach dem Nachhausekommen bei weihnachtlicher Kälte und Dunkelheit, nach dem Kerzenschein und der warmen Suppe. Nach dem Plätzchen Backen und dem Nachdenken über die wichtigen Menschen um mich herum. Ich sehne mich, weil diese Tradition etwas erzählt. Sie erzählt, dass ich die Regeln kenne, dass ich weiß, mit wem ich an einem Tisch sitzen werde. Sie erzählt von dem Ort, an dem ich aufgewachsen bin. Ich wünsche mir diese Dinge her. Ich stelle Teelichter auf, backe Lebkuchen und bereite Glühwein zu. Ich bin zum ersten Mal seit meinem Aufenthalt hier auf der Suche nach Deutschen, den sogenannten „Gleichgesinnten“.  Einfach weil ich dieses Erlebnis, diesen Tag, mit jemandem teilen möchte. Und wenn dann plötzlich jemand mit einem Geschenk kommt, jemand, der wahrnimmt, dass ich aus einer anderen Kultur komme und bestimmte Bräuche damit verbunden sind,ist es, als würde er/sie mich wirklich sehen und wertschätzen. Sie hat weiter geschaut, als nur bis zum Rand ihrer eigenen Bräuche.
Wenn man einsam ist, bekommen diese kleinen Dinge plötzlich einen ungemeinen Wert. Diese Einsamkeit bringt mich komischerweise näher zur Notwendigkeit, zu teilen. Als ich gestern auf dem Markt war um für das Weihnachtsessen übergebliebenes Essen einzusammeln (es war feucht und dunkel, leer und die Wege zugemüllt) war es das natürlichste auf der Welt, der Touristin ihr Baklava zu bezahlen. Ich hatte gerade zufällig das passende Geld und sie eben nicht. Ich habe mich kurz gefühlt, als würde ich hierher gehören. Ich konnte mit dem Verkäufer reden, ich kannte die Regeln des Marktes und ich hatte irgendwie von den Leuten hier gelernt, nachdem ich unzählige Male einfach beschenkt wurde. Ob ich den Menschen mit dem gleichen Grinsen und herzlicher Umarmung gedankt habe, weiß ich nicht.

Vielleicht sind diese Tage ein kleiner Einblick in die Welt eines Menschen mit Migrationshintergrund. Jemand, der umgezogen ist, und sich sein Leben ganz alleine neu aufbauen muss. Heute sind mir all die jüdischen Bräuche egal und meine Neugierde der letzten Monate für “das andere” wie weggeweht. Das einzige, was ich möchte, sind Menschen um mich herum, die mir nah sind und mit mir meine Tradition teilen. In den letzten Jahren haben diese Festlichkeiten für mich an Wert verloren und ich habe sie eher verflucht als gesegnet. Ich habe mich in Kreise begeben mit Menschen gleicher Werte, mit ähnlichen Interessen und Standpunkten im Leben außerhalb von Traditionen und nationalen Bräuchen. Heute geht es mir um etwas anderes. Ich wünsche mir die Präsens einer Tradition, die ich mit menschlicher Nähe verbinde. Da ist es für einen Moment nicht mehr wichtig, ob jemand Fleisch mit zum Weihnachtsbuffet bringt. Wichtiger ist mir, dass derjenige da ist und sich willkommen fühlt.

Wir waren am Weihnachtsabend also zu fünft. Die Palme als Christbaum verkleidet, die Hanukia mit ihren 3 angezündeten Teelichtern, Nitai der Rohkostler und Simcha, der noch vor ein paar Jahren streng religiös war und einer Frau nicht in die Augen geschaut, geschweige denn sie in ihrer Wohnung besucht hat. Ach ja, und ich. Die Äffin in der Stadt.

Zeit zum Zahlen.

Lange habe ich den Gedanken, länger zu bleiben, gar nicht erst zugelassen und stattdessen gekämpft mit der Zeit, in der ich noch all die feinen, bitteren, süßen und herben Zutaten des reich bedeckten Tisches kosten möchte. Auch wenn ich vieles schon einmal ausprobiert habe und manches schon Routine geworden ist, scheint anderes noch immer ganz weit weg und fremd. Wenn ich durch die Stadt fahre, bin ich immer noch mit großen Augen unterwegs, und die Entdeckung eines Buchladens mit uruguayanischen Verkäufer und außnahmslos spanischsprachigen Büchern scheint mir noch stets ein Phänomen der Unmöglichkeit, zumindest im Nahen Osten…
Mit Neugierde bin ich in den ersten Monaten hier meinem Umfeld begegnet. Und gleichzeitig einer gewissen Distanz. Jener, die aus dem Wissen heraus entsteht, dass ich bald wieder gehe. Bekanntschaften waren für den Moment und mir hat es nichts ausgemacht, das unwissende Kind zu sein und einfach nur kennenzulernen. Bis zu dem Punkt, an dem sich mein unschuldiger Blick auf die Dinge verändert hat und mein Wortschatz groß genug war um ungewollt Gesprächen auf der Straße zu folgen, um in ernsthafte Konversationen einzutauchen und um mich tatsächlich auszudrücken. Bis zu dem Punkt, als der Gedanke an einen verlängerten Aufenthalt aufkam und alle Bedürfnisse, die ich auf “Wenn ich nach Deutschland zurück komme” geschoben hatte, sich auf das hier und jetzt verlagert haben. Dazu zugehören. Die gleiche Aufmerksamkeit zu bekommen, wie die Menschen, die hier schon ewig leben. Eine Rolle einzunehmen, in der ich mein Wissen und Können teilen sein. In der ich nicht mehr nur mitmache, sondern selber kreiere. Nicht nur kennenlerne, sondern wirklich begegne. Das heißt, wirklich in den Wunschpunsch hineinzutauchen und all seine Geschmäcker wie ein Schwamm aufzusaugen, auch die mir weniger lieben. Mich mit Versicherungen rumzuschlagen, die nicht wie bei uns den Zahnarztbesuch übernehmen und mich erneut auf die Suche nach einer bezahlbaren Wohnung zu machen. Meinem Geld zuzuschauen, wie es wie flüssiges Gold unaufhaltsam aus der Tasche fließt. Über wasserüberflutete Straßenflüsse zu springen, in ewigem Stau zu sitzen und von Bussen an der Haltestelle übersehen zu werden. Mich auf den Wandel der Jahreszeit einzulassen und damit langsam von den Granatäpfeln verabzuschieden und die Augen zu öffnen für die Zitrusfrüchte, die an jeder Ecke wachsen. Es heißt auch, Palestina kennenzulernen, und zu hinterfragen, was als Palestina definiert wird. Mit dem jungen Gastarbeiter im Bus zu reden, der täglich um 4:00 Uhr morgens am Checkpoint steht, um als gelernter Physiotherapeut auf israelischem Gebiet am Bau zu arbeiten. Es heißt, die rosa Brille abzusetzen und gemeinsam mit den Leuten hier die kritische Situation versuchen zu verstehen. Und es heißt auch,  vorsichtig zu sein, mit wem ich was teile und wo ich besser schweige.

Doch bin ich bereit mich diesen Hindernissen und den tiefen Fragen des Lebens zu stellen, ohne dem Halt von Familie und jahrelangen Freundschaften? Weit weg von den Menschen, die all meine Gesichter schon kennen, sie akzeptieren, und mir zeigen, dass sie mich als Ganzes lieben und für mich da sind?

Denn neben den kulturell/ökologisch und soziopolitischen Aspekten, spielt noch eine ganz andere Parallelwelt eine Rolle. Es geht nämlich auch darum, mich zu öffnen und zu zeigen. Mit meinen Erwartungen und Ängsten, dem Bedürfnis and Kontinuität, Wärme, Zuneigung und einem Sinn meiner Existenz. Wo bisher vorallem die selbstbewusste, liebevolle, spontane, wissbegierige und offene Seite von mir im Vordergrund war, merke ich, wie sich die anderen Charaktäre durchboxen und einen Platz suchen. Als wären sie bis jetzt in Deutschland geblieben, und jetzt erst angereist. Plötzlich tauchen sie auf, weniger eingeladen als unerwartet. Es sind Gäste, die ich nicht immer gerne willkommen heiße. Gäste, die mir vielleicht peinlich sind, für die ich mich schäme. Sie sitzen in meinem Wohnzimmer, als würde es ihnen gehören und übertönen mit ihrem Geplapper die Stimmen derer, die sich hier schon eingelebt haben und mit naivem Blick erhofft haben, die Wohnung für sich alleine zu haben.

“There is still so much to see. So many hidden faces. So many hidden beauties, so much hidden pain. Getting to know a few of them, I realize that every answer builds the way to a new question.”

Habe ich den Willen,
die Kraft,
die Liebe
und den Mut,
um diesen Gesichtern zu begegnen?

Wenn’s um Geld geht und ums Teilen…

Mein Kreditkartenlimit war anscheinend erreicht und meine unheimlich unterstützende Bezugsbank in Deutschland (Sparkassenidioten) haben mich mit Freude auf die Dringend-zu-bearbeiten-Warteliste gesetzt und dort bis heute verweilen lassen. Nach mehreren gescheiterten Versuchen, bei ihnen etwas in Bewegung zu bringen, habe ich mir also selber Geld geschickt via Western Union, und siehe da, 2 Tage später war ich wieder fähig, meine Zitronen selber zu bezahlen. In der Zeit ohne Geld konnte ich auch kein Bus fahren. Also musste ich irgendwo ein Fahrrad besorgen. Ein Freund hatte mir 200 Shekel geliehen, von denen noch genau 48 übrig waren. Umgerechnet ca 15 Euro. Nachdem ich schon zwei Stunden Fußweg auf der Suche nach Secondhand-Fahrrad-Geschäften hinter mir hatte, bin ich in bei einem Straßeneck-Fahrradladen einem Mann gegenübergetreten, der mir im ersten Moment langsam und auf den zweiten Blick im Herzen sehr sehr traurig erschien. Wie ich erfuhr, war er kurz davor, den Laden zu schließen. Miete zu teuer, zu wenig Einkommen. Ein Jahr hat sich die Werkstatt gehalten. Ich habe ihm erklärt, dass ich nur 40 Shekel zur Verfügung habe und auf der Suche nach einem Leihrad sei. Und siehe da, er war tatsächlich bereit, mir für das wenige Geld ein Fahrrad zu geben, mit halbem Schloss dazu und dem Vertrauen, dass ich eine Woche später wiederkäme um ihm das Fahrrad abzukaufen, für einen verhandelten Preis von 150 Shekel (Ca. 40 Euro). Als ich aus dem Laden ging, hatte ich ein schlechtes Gewissen wegen der Handelaktion. Wieso nach noch mehr fragen, wenn mir doch schon so viel gegeben wird…? Eine Woche später überkam mich das selbe Gefühl als ich ihm das Fahrrad zurückbrachte und für die 40 Shekel Leihgebür, die ich bezahlt hatte, um das halbe Schloss bat. Warum war ich nicht bereit, noch mehr zu zahlen? Wenn ich doch wusste, in welch schwieriger Situation er war? Mit seiner traurigen Gestik im Rücken habe ich den Laden Verlassen, mit einem Gefühl von Schwere und Unwohlsein. Es hat mich sicher Hundert Meter gekostet um mich umzudrehen, zurückzugehen um ihn auf seinen traurigen Blick anzusprechen und dann doch nicht ganz zu ihm zurückzukehren, da er schon einen neuen Kunden hatte…. Vielleicht komme ich bald mal vorbei, mit zwei Tassen Tee…
Das hab ich mir gesagt.
Um mich zu beschwichtigen?
Vielleicht… Die Grenze zwischen annehmen und ablehnen ist verschwommen. Immer wieder bekomm ich eine geklatscht. Ich nehme wahr, dass ich zu viel gefragt habe, denn ich kenne die Regeln nicht. Ich weiß noch nicht, wie und was ich geben kann, sodass es gerne angenommen wird. Insgeheim wünsche ich mir glaube ich immernoch, dass sie es ablehnen. Ein Gefühl von „Ich muss aufpassen, denn ich könnte ja nicht genug haben“ begleitet mich stetig.

Die Menschen hier geben. Einfach, weil sie es so kennen. Sie schenken, was sie haben. Tauschen miteinander, gehen Deals ein. Und ich mache mit, nehme ihre Großzügigheit an, bestaune sie und bin überfordert damit, es ihnen nachzumachen.
Schon lange will ich lernen zu teilen. Mit Dingen und Essen und allem, was vergänglich ist. Meine Gäste einladen, sie genießen lassen und nicht über meinen Verlust nachdenken…

Ich erinnere mich, wie ich in der Grundschule immer relativ verzweifelt versucht habe, meine Süßigkeiten vor meiner großen Schwester zu verstecken. So lange, bis sie steinhart waren. Dabei hat sie immer mit mir geteilt. Mir ihre alten Klamotten geschenkt, CDs gebrannt, Pizza bestellt… Und wie oft wurde ich zum Abendessen eingeladen von der Familie meiner ältesten Freundin, auch wenn es eigentlich genau für 4 abgemessen wurde. Etwas Wasser zur Suppe hinzufügen, sagt man im Spanischen. Denn für Gäste gibt es immer genug.

 

Wir hatten selten Gäste, zuhause. Unser Wohnzimmer schien nicht passend dafür und Knabberzeug hatten wir auch nicht zu bieten. Und wenn dann, war es zu gesund für den Normalverbraucher und es war mir peinlich. Wir hatten eben das, was wir selber brauchten. Der Platz war abgemessen für uns, die Zeit eingeteilt…

Manchmal denke ich, dass ich nichts zu geben habe, jetzt wo ich hier bin, und eingeschränkt in meinen materiellen Gütern. Als Neuankömmling bin ich angewiesen auf praktische Hilfe. Und im Gegenzug trete ich den Menschen offen und pur gegenüber, zeige Dankbarkeit… Ich haben mich also für ein anderes „Geben“ entschieden. Ich teile meine Energie, mein Lachen, meine Freude, meine Musik, meine Ohren und kleinen Weisheiten. Und manchmal fühlt es sich tatsächlich an, also würde ich mich teilen. Als Ganzes übergeben.
Müde bin ich danach. Nicht, weil ich es nicht auch selber genieße mit anderen. Sondern weil es erfordert, nach außen gekehrt und präsent zu sein, nachzufragen, Interesse zu zeigen, offen zu sein und neugierig… Kurz um: aus der eigenen Zone heraustreten und sich nicht verstecken zu können. Manchmal will ich also einfach nur in meinem stillen Kämmerchen sitzen, mich von der Welt abkapseln und neue Energie tanken. Dann habe ich meinen Körper und meine Liebe ganz für mich, bis ich wieder stark genug bin, in die Welt hinaus zu treten.

Zwischen Juden und Soldaten

Chaos im Kopf. Viel unsortieres Blabla, dem ich nur genauso „blabla“-artige Worte zuschreiben kann. Ich vermisse das „Ist mir Egal“-Gefühl, das mich die letzten Monate begleitet hat. „Ist mir egal“, in dem Sinne, dass alles nicht so tragisch ist. Dass wir nie alles wissen können und diese Unwissenheit eine kindliche Neugierde in unseren Alltag bringt. Dass wir genau den Weg gehen, der wichtig und richtig für uns ist und dass wir unserem Impuls folgen und darauf vertrauen dürfen, dass sich die Dinge schon irgendwie ergeben.
Doch das ist leicht gesagt aus der Perspektive einer sorglosen Reisenden, in einer Umgebung, die nur das Beste zu bieten scheint scheint. Es wirkt ein bisschen als wäre ich nochmal Kind gewesen, hätte die Welt durch meine naiven und verspielten Augen gesehen und wäre jetzt der Alltags-Erwachsenen-Realität begegnet. Dinge scheinen komplexer, mehr Menschen sind verstrickt und die bürokratischen Wege scheinen kein Ende zu finden… Plötzlich scheinen Dinge mühsam und von Problemen überhäuft und mein Blick bekommt einen besorgten und erwartungsvollen Schleier.

Doch vielleicht kann ich mich trotzdem versuchen an diese kindliche Haltung zu erinnern. Ich ergänze die chinesische Parabel durch eine Anekdote aus meinem eigenen Leben:

Die Wohnungssuche war wahrscheinlich der herausfordernste Teil der Reise bisher. Schon von Anfang an hat mich eine Art Sorge und Unruhe begleitet, ich müsse so früh wie möglich eine Adresse haben, natürlich mal wieder für bürokratische Zwecke; Versicherung, Bafög, Verträge, etc. Also bin ich immer wieder während der Zeit, in der ich auf den Farmen gelebt habe, zu Wohnungsbesichtigungen ins Zentrum von Israel gefahren. So bin ich von einer Wohnung zur nächsten gewandert, hab mit Mühen Treffen auf Hebräisch organisiert und verschiedenste Menschen kennengelernt.
Die erste Bekanntschaft war der Eisjunge (Alias der Mensch mit der stinkenden Hundewohnung) bei mir um die Ecke, bei dem ich heute noch manchmal vorbeigehe und mir das Bomben-Schoko-Eis hole, in Kombination mit Kokos oder Banane-Dattel. Manchmal, wenn ich so richtig Lust drauf hab. Durch ihn habe ich auch den Platz oben am Hügel kennengelernt, wo es ruhig ist und der Blick über der Stadt verweilen kann.
Während der Wohungssuche war ich gezwungen, jedes mal einen Schlafplatz für eine Nacht zu finden. Zum Glück kannte ich schon ein paar Menschen aus dem Norden und durfte bei ihnen nächtigen. So hab ich mich an Eden gewendet und durch ihn hat sich mir eine neue Welt aufgetan. Junge Menschen, die über Politik reden, sich mit sozialkritischen Themen auseinander setzen und die, für mich interessanten Orte kennen. Es war anstrengend und ermüdend, denn ich musste um Hilfe fragen und habe mich abhängig gefühlt. (Aber was ist eigentlich Unabhängigkeit? Alles allein zu machen? Oder zu wissen, wie mensch nach Hilfe fragt?)

Als ich in die Wohnung eingezogen bin, die ich für den „perfekten“ Ort gehalten habe, wusste ich nicht, was es bedeutet, in einem Haus mit Bauarbeiten zu wohnen. Ich hatte mich auf die schönen Bilder an den Wänden gefreut, die aus alten Kronkorken, Schallplatten und Baumaterial gestaltet waren. Ich hatte an die Atmosphäre gedacht, die der Vormieter der Wohung gegeben hat. Nicht an die Tatsache, dass das Wohnzimmer jeden Tag aufs Neue von Staub bedeckt wird, dass ich am Morgen eine Bohrmaschiene so nah an meinem Ohr fühle, sodass ich mit Ohrstöpseln in den Ohren meinen Granatapfel esse. Ich hatte nicht daran gedacht, dass ich mit Anziehsachen schlafen muss, wenn ich das Fenster auflasse in der Nacht und den Bauarbeitern damit Einblick in mein Zimmer gewähre. Auch war mir nicht bewusst, dass ich mich andauernd mit meinem Vermieter koordinieren muss, der zwei mal die Woche kommen will um irgendwelchen Männern die Wohnung zu zeigen, die nach meinem Auszug renoviert und verkauft wird.  Und natürlich hatte ich nicht damit gerechnet, dass durch die Bauarbeiten an den Außenseiten des Hauses der Beton die Zimmerwände durchnässt und das Zimmer meiner Mitbewohnerin überflutet. Da Dvora ohnehin nie wirklich eingezogen war und sie immernoch das Wohnzimmersofa zum Schlafen nutzte, war es ihr ein Leichtes, in nur wenigen Tagen zu entscheiden, ihre Sachen zu packen und das Weite zu suchen. Ich war also auch nicht darauf vorbereitet, einen Monat nach meinem Einzug erneut nach einer/m MitbewohnerIn zu suchen.

Das einsame Münchner Manschkerl, auf der Suche nach jemandem, der die Wohnung teilen wolle und mit all diesen Gegebenheiten ok sei, plus der neusten Neuigkeit: 2 Wochen außerhalb schlafen (bezahltes Hotel oder selbstverantwortliches Wohnen mit Entschädigung) auf Grund von Renovierungsarbeiten im Treppenhaus. Die Auswahl war vorallem zwischen religiösen Juden (die meisten möchten nicht mit mir zusammen leben), Soldaten (Ich möchte nicht mit ihnen zusammen leben) und den Leuten irgendwo dazwischen. Es war ein Moment gekommen, wo meine bekannten Kategorien nicht mehr griffen. Militärsdienst Fotos auf Facebook war keine passende Kategodie mehr um bestimmte Werte zu erkennen, denn Menschen in meinem Alter sind grundsätzlich gerade fertig mit dem verpflichtenden Zivildienst und haben somit allesamt Fotos von sich in Militärskleidung unter ihren Facebookprofielbildern. Es gehört schließlich zu ihrem Alter für einige Jahre. Ich musste mir also neue Anhaltspunkte suchen um zu entscheiden, wen ich zu einer Besichtigung einlade: Das Lächeln, die Präsens der Natur oder die Kreativität der Bilder. Aber ehrlich gesagt; Ich hatte keine Ahnung. Am Ende hab ich einfach alle eingeladen, manche kamen, manche nicht, wie das hier meistens läuft.

So bin ich auch Dor (Generation) begegnet. Ich hatte auf seinen Profilbildern gesehen, dass er Nitanyahu wählt und war kurz davor gewesen, ihm abzusagen. Doch irgendwie klang er nett in seinen Nachrichten und ich war etwas hilflos also hab ich ihn eingeladen. Zwei Stunden war er bei mir, dabei hatte ich ihm von Anfang an gesagt, dass ich früh schlafen gehen wolle. Doch dann hat meine Neugierde mal wieder gesiegt. Bisher hatte ich noch nie die Möglichkeit mit jemanden so intensiv über politische und sozialkritische Themen zu reden, der wirklich so anderer Meinung ist und der bereit ist, mir von seinem Standpunkt zu erzählen, auch wenn ich ihm Videos zeige, die die entgegengesetzte politische Haltung vertreten. Unsere Verbindung war eine andere; der Umgang miteinander, die Lockerheit, die Kreativität. Mit dieser Basis haben wir uns an Themen gewagt, wo sich unsere Meinung unterscheidet. Er hatte mein Vokabelheft gesehen und die Seite mit den politischen Begriffen aufgeschlagen. Schon eine Weile davor hatte ich in meinem Kopf Ideen gesponnen, wie ich zu dem Thema überleiten könne. Endlich war die Möglichkeit da. Es war richtig aufregend, seinen Standpunkt zu Feminismus zu hören und meinen eigenen zu testen.. Er meinte, dass wir ja eh schon alle gleich seien. Er als Kind einer Mutter, ohne Vater aufgewachsen, hätte Fußball gehasst und würde Frauen als unglaublich stark sehen. Er sehe keine Ungleichheit. Wozu der Feminismus? Er würde doch nur alles viel mehr zerreißen. Das ist einfach zu sagen, wenn man ein Mann ist. Auch wenn man, so wie ich, immer gerne in Jungsklamotten rumgelaufen ist und die Vorzeigeperson der sogenannten starken, unabhängigen Frau ist. Ich hab mich vorzüglich versteckt, getarnt hinter diesem Bild und mir gleichzeitig den Respekt auf dem Bolzplatz erkämpft. Ich dachte, wenn ich genauso bin wie die Jungs, dann kann ich auch dazu gehören. Und alle Frauen könnten das ja tun. Erst ganz langsam hab ich die tiefer liegenden Schichten entdeckt. Wie letzte Woche am Strand. Als ich von zwei Männern angesprochen wurde, die einfach nicht locker gelassen haben und ich jedem auf’s Neue ohne Vorurteile begegnen wollte. Ich wollte ihnen glauben, dass sie einfach nur mit mir abhängen wollen. Bis der eine mich geküsste hat und der andere nach meiner Schambehaarung gefragt hat. Oder zum Beispiel in der Musik. Lange dachte ich, ich müsste die gleiche Musik spielen, damit ich dazu gehören kann und eine „echte“ Musikerin bin…  Nun ja, mehr oder weniger mit dieser Ausführlichkeit habe ich also Dor erzählt, was mein Standpunkt zu dem Thema ist. Er hat mir gezeigt, wie schwer es doch ist, sich eine Meinung zu bilden, ohne Teil des Geschehens zu sein. Denn noch vor nicht all zu langer Zeit hätte ich ihm zugestimmt. Wozu der ganze Kampf, es gibt doch wichtigeres…

Neben Dor gab es dann noch Simcha (Glück). Ihn hab ich an seinem Arbeitsplatz getroffen in einem Laden für Barfußschuhe. Nachdem ich die Bestätigung für meinen ausgesprochen guten Stand bekommen habe (ich tippe auf Yoga und Barfuß laufen), sind wir in ein arabisches Café gegangen und haben Salbei-Tee bestellt. Dazu Süßigkeiten, beide aus der Gewohnheit heraus, der Gesellschaft wegen etwas zu essen, was wir eigentlich nicht auf unserer persönlichen Speisekarte stehen haben. Das haben wir relativ bald raus bekommen. Denn wir teilen unglaublich viel. Simcha ist der zweite Mensch in Israel, der in meinem Alter oder sogar jünger ist und mit dem ich abhänge. Und noch dazu hat er amerikanische Eltern (meine Vorurteile werden langsamer Hand abgebaut) und kommt ursprünglich aus einem „Haredim“-Haushalt, was bedeutet, dass er orthodox erzogen wurde, auf eine reine Jungenschule gegangen ist und sein Leben nach der Religion gerichtet hat. Und jetzt ist er in Tel Aviv und sucht nach einer neuen Bedeutung seines Lebens. Im hebräischen sagt man „Ich bin fragend gegangen“, wenn jemand aus der strengen Religion aussteigt.
Die nächsten Tage war Simcha also noch zweimal bei mir zu Hause um die Umstände der Bauarbeiten life mitzuerleben. Wie ich nur auf den Moment gewartet hatte, dass wir reden, und kein Wort davon verstehen, was der/die andere sagt. Endlich kam der Moment, und ich glaube Schock genug, denn er ist dann letztendlich nicht eingezogen. Die Freundschaft bleibt zum Glück.

Zufälligerweise hatte ich vor zwei Wochen jemanden beim Kontakt-Tanz kennengelernt, mit dem ich wortlos Nummern ausgetauscht hatte. Bei unserem Wiedersehen (zum ersten Mal dann mit Worten) hat er mich zu einem Ort mitgenommen, der „Baum in der Stadt“ genannt wird. Eine Gruppe von Leuten, die dort kleine Stadtgärten mit Kompost haben, Bokaschi machen, natürliche Kosmetikprodukte herstellen und Workshops für ein ökologisches Leben in der Stadt geben. Und natürlich hab ich an diesem Ort meinen alten Freund Henk wiedergetroffen. Israel ist wie München, ein Dorf, in dem sich jeder kennt. Vielleicht liegt es an dem Militärsdienst, dass einmal alle durchgemischt werden, für 2/3 Jahre an einem zufällig ausgewählten Ort ihren Dienst ableisten, dort Freunde finden und dann wieder zurück in ihre Heimat gehen oder in die Hauptstädte zum Studieren. Oder an der kleinen Blase in der ich mich bewege. Denn nicht nur innerhalb der Israelis passiert mir das. Letzte Woche habe ich eine Amerikanerin bei Extatic Dance kennengelernt und sie 3 Tage später in dem kleinen Garten im „Baum in der Stadt“ wiedergetroffen. Auch ihr wurde ein kaputtes Fahrrad verkauft und sie hatte ein heiden Drama mit ihrer Wohung. Zeit zum Zufall-Zweifeln…

An diesem Abend habe ich also auch erfahren, dass Nitai nach einer Wohnung sucht und durch die Sache mit dem Treppenhaus konnte ich ihm einen unschlagbaren Deal anbieten: 2500 Shekel weniger, als der ursprüngliche, eh schon günstige Wohnpreis. Nach einem Monat hin und her und dauerndem dolmetschen zwischen allen Beteiligten hab ich also einen Mitbewohner, wohne selber einen Monat umsonst in der Wohnung und bin für zwei Wochen lärmfrei bei meinem Untervermieter untergebracht, die einen Ninja haben (hervorragenden Küchenmixer). Ich kann nicht einfach so Freunde zu mir nach Hause einladen, dafür hab ich grad keine Verantwortung und wohne zusammen mit einer kreativen Familie. Das ist der Stand der Dinge heute. Ich hätte nie erwartet, dass es sich so entwickelt und wer mir alles auf dem Weg hierhin begegnen würde. Vielleicht ändert es sich schon morgen. Oder wenn ich zurück ins Chaoshaus mit Nitai zusammen ziehe. Vielleicht verfluche ich meine Entscheidung, vielleicht werden wir richtig gute Freunde, vielleicht kommt alles ganz anders.

Wofür die Musik spielt

Die Stille im Haus. Eine Stille, der ich entfliehen möchte. Eine Stille, in der Gedanken sich stapeln, sich schwer anfühlen und gleichzeitig wie Papiere in einem Büro herumfliegen, durch das ein starker Luftzug geht. Ich weiß, dass ich schreiben will, doch ich finde keinen Anfang, spüre keine Klarheit über mein Aussage. Sobald ich die Musik anmache habe ich das Gefühl als transportiere ich die Stille von außen nach innen. Ich finde einen Weg, den Gedankenqualm zu zentrieren, ihm eine Richtung zu geben, bis er sich zu einem Fluss formt und fließt. Auch wenn ich die Richtung nicht sofort klar ist, ich spüre Bewegung.

Ich erinnere mich an den Freitag letzter Woche. Die Nacht hatte ich auf der Couch auf dem Balkon eines Freundes verbracht. Ich war ganz nah dem Unwetter draußen, mit prasselndem Regen auf dem Dach und sanftem Wind auf meinem Gesicht. Morgens hat mir das Sonnenlicht den neuen Tag angekündigt… Ich bin aufgewacht und wusste ganz genau, was ich will. Ich bin ich an den Strand gefahren, einen mit wenig Menschen. Die Wellen waren mächtiger als sonst. Mit den Sandalen in der Hand und alle paar Meter Wasser über den nakten Füßen, bin ich also in Richtung Sonne gelaufen, und die Gedanken haben sich eingehakt. Wo spielt eigentlich die Musik? Und welche Rolle spielt sie in meinem Leben?
Sie war ursprünglich der Grund, hierher zukommen. Ich wollte neue Melodien kennenlernen, mich in die Rhythmen hier hineinfühlen. Doch dann war ich hier und alles ist anders gekommen. Ökologie, Politik, Sprache, Gesundheit, Beziehung, Liebe, Gemeinschaft, Warnehmung, Körper, Sinne, Leben.. Diese Dinge sind mir im Alltag begegnet, mit diesen Dingen haben sich die Menschen in meiner Umgebung beschäftigt. Und ich bin gefolgt, dem was da war. Ich bin mitgeflossen, hab mich tragen lassen von meinem Umfeld. Und wenn es sich ergeben hat, habe ich meine Geige gepackt, habe die Menschen in der Früh mit meinen Tönen geweckt oder die Gitarre am Lagerfeuer begleitet. Und das war wunderbar, solange ich in kleinen Gemeinschaften gelebt habe, die Natur um mich herum, eine klare Aufgabe und wenig Ziele. Nach dem Sommer hat sich das Blatt gewendet. Jetzt bin ich in der Stadt. Alleine. In einer großen und mehr oder weniger leeren Wohnung, umgeben von Baugerüsten. Ich habe feste Termine und bin in geschlossenen Räumen. Aber vor allem bin ich von tausenden von Menschen umgeben, jede(r) mit einer anderen Geschichte. Sie zeigen mir die zauberhafte Welt der unendlichen Möglichkeiten und ich reiße die Augen weit auf. Ich will überall gleichzeitig sein und allen gerecht werden. Ich entdecke die Kehrseite meiner Offenheit. Ich werde mitgerissen, von einer Seite zur anderen geschubst. Alle sagen was anderes, schicken mich woanders hin. Woher weiß ich, was davon wirklich wichtig für mich ist? WOFÜR entscheide ich mich? Wofür entscheide ICH mich?

Ich merke, wie ich mich langsam verkrieche und versuche unscheinbar zu werden. Es ist einfach zu viel. Zu viel Auswahl, zu viel Erwartung, zu viel Vergleich, zu viel Bürokratie. Kurzzeitig entgleise ich bei dem Versuch, vor meiner Uni rechtzufertigen, was ich hier eigentlich mache. Den Tätigkeiten einen Wert zuzuschreiben, meiner Existenz einen Sinn. Anscheinend ist es nicht mehr genug, einfach nur zu sein. Jetzt müssen Worte daran geheftet werden, Creditpoints und vor allem Wertung. Ich spüre Druck, beise die Zähne zusammen und werde unruhig. Wieso muss ich bewerten, was ich hier mache? Wieso hat das Kurse besuchen in der Uni plötzich mehr Wert als das Kennenlernen der Menschen? Meine ganze Perspektive verschiebt sich und meine Motivation folgt. Jetzt geht es scheinbar darum, was andere wollen und nicht, was ich will.

Ich biege die Brille, und schau mir das ganze nochmal ganz in Ruhe an. Ich suche nach der Präsens der Musik in meinem Leben. Langsam kommen Bilder hoch. Den Sommer über habe ich Lieder geschrieben, Mantras für mich gesungen, um mich zu beruhigen oder zu zentrieren. Ich habe mir eine Playlist erstellt, nur mit hebräischen Liedern, die mich auf meiner Reise begleitet haben. Ich habe Texte auswendig gelernt und gesungen und die selben Lieder gehört, wie die Menschen hier. Fakto: Durch die Musik habe ich Hebräisch gelernt und mich den Menschen und der Kultur angenähert. Ja! Ich hab’s! Ich weiß, wie sich das in Worte fassen lässt: Integration durch Musik. Mit allem was dazu gehört. Sprache, Kultur, Menschen und Traditionen kennenzulernen, umzugehen mit dem Gefühl fremd und alleine zu sein, sich anzupassen, soziale Regeln wie ein kleines Kind zu lernen und seine eigene Identität und Rolle in das Neue zu integrieren.

Was ein Energieschub! Denn damit ist mir nicht nur klargeworden, was das Thema meiner Bachelorarbeit sein wird, sondern auch, dass alles, was ich in meinem Leben gemacht habe und weiterhin machen werde, irgendwann irgendwo seinen Platz finden wird. Wie es in der chinesischen Parabel von meinem Papa heißt. Manchmal sind es eigene Entscheidungen, manchmal passiert es einfach. Das Vorbereiten von Jugendlichen vor für ihren Kulturaustausch, das Folgen/Geben von Workshops mit Geflüchteten, Tanzen auf Balkanparties, Sammeln von Kochrezepten aus aller Welt, das Leben in einer internationalen WG, das Teilen einer Liebe mit einer Mexikanerin, das Hören traditioneller Musik aus Mali und Türkei, das Spielen irischer Volksmusik und das Lesen von Büchern einer nigerianischen Schriftstellerin. All das sind Dinge, die ich aus reinem Interesse gemacht habe. Ohne wirklich bewusst darüber nachzudenken, was mir das irgendwann mal bringen könnte. Ich bin 22 Jahre alt, und lebe zum 3. Mal alleine in einem mir fremden Land. Ich möchte dieser Leidenschaft ihre Wichtigkeit nicht mehr abschreiben. Sie ist nicht einfach nur ein Hobby am Rande. Ich kann sie zu einem Teil von meinem Lebens-Projekt machen.

Meine Motivation und meinen Antrieb dafür finde ich ganz tief in mir. Ich spüre keinerlei Zwang von außen. Dass es manchmal schwierig ist, kann ich akzeptieren. Denn meine Neugiere ist größer. Sie ist begleitet von etwas sehr Persönlichem. Einer Suche nach einem Zuhause. Einer Suche nach Tiefgang, nach etwas, dass mit dem Kern von mir resoniert. Denn jede Person, jeder Ton, jeder Ort und jede Frucht, der ich begegne, gibt mir die Chance, einem Teil von mir mehr Form zu geben. Ja, vielleicht entspringt diese Neugierde auch aus einem Gefühl von Einsamkeit. Einem Bedürfnis, meine Leidenschaften zu teilen. Mit Menschen, die Dinge ähnlich erleben wie ich. Bei denen ein Teil von mir ein Zuhause findet. Ich gebe mir die Möglichkeit, mich nicht einer einzigen Geschichten hinzugeben, sondern der Vielfalt in meiner Person Raum zu geben. Doch was passiert, wenn meine Seele sich über die ganze Welt verbreitet und überall ein Stück zuhause erlebt. Wo gehöre ich dann hin? Ich möchte all meine Freunde bei ihren tollen Projekten begleiten, ich möchte einen Teil davon formen, mit ihnen gemeinsam gestalten. Doch ich bin schon wieder weitergezogen. Ich habe mich für einen anderen Weg entschieden. Was mir bleibt ist die Verbindung zu ihnen und ihre Geschichten.

Es kommt eine tiefe Traurigkeit auf. Ein Gefühl von Zerissenheit und Entwurzelung. Etwas, dass mich als Individuum stark macht, pur, unabhängig, reich an Erfahrung und Weisheiten. Doch auch einsam. Und es lässt mich über meine Prioritäten reflektieren. Über das Bedürfnis „die Beste“ in etwas sein zu wollen. Denn ja, was wird mir davon bleiben? Außer distanzierter Anerkennung?

Was ich mir wünsche ist Verbindung. Und manchmal spüre ich sie ganz stark. Wie letzte Woche, als ich eine Meditationsstunde angeboten habe. Ich arbeite gerade als Freiwillige in einem Musikprojekt, in dem Menschen mit verschiedenen Sorten von geistiger Beeinträchtigung einen zwei-jährigen Kurs in Musik folgen und dadurch Teil des universitären Geschehens sind. Ich hatte mir vorgenommen, so wenig wie möglich auf der Geige zu tun. So simpel und zentriert wie möglich zu spielen. Denn es ging um die Gruppe, um Kontakt zu ihrem Inneren und nicht um ihre Aufmerksamkeit auf mich und meinem Können. Ich habe einfache Melodien gesucht und diese wiederholt. Und eigentlich habe ich meine ganze Improvisation auf einem Ton basiert, zu dem ich immer wieder zurückgekommen bin. Mal war der Ton ganz alleine, mal hauchig wie ein Atemzug, mal war er kräftig und erdend. Und manchmal habe ich ihn verbunden mit einem zweiten Ton zu gleicher Zeit, um den Raum zu öffnen für Emotionen. Dazu habe ich meine Stimme benutzt. Sie und der Klang meiner Geige haben eine Einheit geformt, sich entfernt von der Dynamik von Solo und Begleitung, ein Spiel ohne Hirarchie. Das Spiel war Mantra-artig, mit urvölkischem Charakter und beeinflusst durch all die Menschen und Musiken, denen ich auf meiner Reise bis hierher begegnet bin.
Die Gruppe war berührt und die Kollegen inspiriert. Was ich selber dabei erlebt habe, war die Kraft der Simplizität und der Purheit. Die Konzentration auf die Essenz. Und ein Stück Eingestehen meiner Fähigkeit, die Musik zu nutzen als Mittel um uns zu Verbinden. Mit uns selbst und dem, was uns umgibt.

Kamera-Einstellung

Mein Geschmack ist sensibler geworden. Ich erkenne eine Frucht, die genug Zeit hatte, ihren Geschmack zu entfalten, bevor sie gepflückt wurde. Das haben mich die frischen Granatäpfel, Mangos und Feigen gelert. Jeden Tag bin ich auf’s Neue zum Baum gegangen, bzw. auf den Baum geklettert, habe die passende Frucht (nicht zu früh, aber auch nicht von Fliegen beschlagnahmt) ausgewählt und anschließend sitzend auf dem Boden auseinander genommen. Ohne Messer und Gabel, nur mit Hand und Mund. Und ich wiederhole mich: ich rede von Mangos und Granatäpfeln. Danach war selbstverständlich wie bei einem kleinem Kind mein halbes Gesicht fruchtig und wenn ich einen besonders freudigen Tag hatte auch noch das T-Shirt mit dazu. Es war eindeutig: Ich hatte gegessen und es genossen. Und das war auch das Einzige, worauf ich mich konzentriert habe, in diesem Moment.

Auch mein Blick hat sich verändert. Ich sehe eine Schönheit in Dingen, Menschen und Pflanzen, die ich zuvor nicht erkannt hatte. Sogar Männer sind mir sympatischer, rein was die Optik angeht.
Vielleicht kommt das durch die kontinuierliche Präsens von Liebe, die ich spüre, nicht zu jemandem spezifisch gerichtet. Oder durch den Geist einer Reisenden, die sich von dem neuen Entzücken lässt und das nimmt, was ihr geboten wird. Den Moment akzeptiert.
Vielleicht ist es auch nur die Zeit, die mir plötzlich gegeben scheint, wo sie doch sonst immer schien weg zu laufen. Doch auch das Reden mit Händen und Füßen trägt dazu bei. Wo die Sprache noch nicht ausreicht, lerne ich mein Umfeld durch Berührung und Blicke kennen. Ich lenke meine Konzentration auf andere Dinge, suche nach der Essenz der Botschaft, nach dem Kern. Ich switche zwischen Paronama- und Makroeinstellung. Manchmal wird meine Linse groß und fängt alles ein, und manchmal gibt es nur eins, das wichtig ist und ich bin ganz zentriert.

Letzte Woche habe ich in der in der Früh erfahren, dass ich nicht zur Uni kommen muss, da alle öffentlichen Gebäude aus Sicherheitsgründen geschlossen waren. Um die 300 Raketen waren auf uns gezielt worden, nachdem Bibi (Nitanyahu) den Auftrag erteilt hatte, einen Terroristen in Gaza zu ermorden. Am Tag nach dem Geschehen gab es in dem Kurs mit Juden und Arabern (und einer nicht-religiösen Deutschen) eine Diskussion. Die Spannung zwischen beiden jüdischen TeilnehmerInnen nicht zu übersehen. Doch einer der beiden Streitenden hat so schnell geredet, dass ich kaum etwas verstehen konnte. Er war in Rage und von seinem Gefühl geleitet. Und ich hab für einen Moment vergessen, worum es geht und bat ihn um langsamer zu reden. Doch es ging es nicht um das Detail, sondern um den Kontext. Die einzelnen Worte waren unwichtig. Ich musste raus zoomen und mich von der Makroeinstellung für einen Moment verabschieden.

Die Diskussion kam unerwartet. Ich hatte sie nicht kommen sehen. Und genau das ist etwas, wovor Abiya mich schon öfter gewarnt hat.  Die Situation kann von jetzt auf gleich umschlagen und ohne es kommen zu sehen, sieht die Welt ganz anders aus. Was ich hier kennenlerne ist die Notwendigkeit, ganz genau nachzuspüren, was die Situation gerade erfordert. Meine so geahnte Unabhängigkeit und Flexibilität wurde hier schon mehrmals auf die Probe gestellt. Ich kann mir vorstellen, wie einfach es ist, hier unterzugehen, denn 100%-ige Sicherheit ist hier ein Ding der Unmöglichkeit. Ohne einer (zwei doer drei) Alternative(n) kann ich mich ganz schnell verloren fühlen, im Stich gelassen, vergessen. Es ist wie eine konstante Unsicherheit, wie ein durchsichtiges Tuch, das auf dem Land liegt.

Nichts ist fix. Auch die sozialen Regeln nicht. Die Leute machen das, was eben gerade passt und am praktischsten ist. Und das kann sich eben von heute auf morgen auch mal komplett ändern.
Mir gibt das ein Gefühl von Freiheit. Ich werde weniger schief angeschaut, wenn ich auf einen Baum klettere und ich darf meine Meinung am Tag der Verabredung verändern, falls ich gerade Lust auf etwas anderes habe. Menschen um mich herum sitzen nicht gerade beim Essen, mit beiden Händen auf dem Tisch und führen den Löffel zum Mund. Sie haben einen Fuß auf dem Sofa, hauen alles auf einen Teller, halten diesen in der Hand beim Essen, mit dem Kopf halb in der Schüssel. Sie treffen sich zu Shabbat zum gemeinsamen Abendessen und kaufen am Markt ein oder in Läden, in denen Nüsse, Trockenfrüchte, Getreide und Schalenfrüchte offen in großen Säcken angeboten werden. Es hat etwas tierisches, lebendiges, manchmal herb und manchmal sanft.

Fragen zu Identität

Gerade habe ich ein Video von Christine and the Queens gesehen.
(https://www.youtube.com/watch?v=-23e7qJ_4wY&feature=youtu.be)
Ihr Worte haben für mich den Kern des Themas „Identität“ beschrieben. „ I’m using theater to be actually really exposed. […] I’m exploring identity as a construction. […] I’m going to chose my narrative. […]” Sich als Chris auf der Bühne zu presentieren ist für Hélöise Letissier eine Möglichkeit, in einer spielerischen und distanzierten Form ihren versteckten/ schlummernden Qualitäten und Fantasien eigen Raum zu geben und sich zu entfalten. Und das Spannende ist, dass sie sich nach einiger Zeit mit diesen Eigenschaften auch in ihrem echten Leben identifizieren kann.

Etwas ähnliches passiert mir, wenn ich mich in einem anderen Land einlebe. Ortswechsel und die Begegnung mit anderen Charakteren und Lebensweisen geben mir die Chance, Resonanz zu finden für die Teile in mir, die zuvor nicht genährt wurden. Mit rosa Kleid, langsam und behutsam durch den Garten zu laufen würde in meinem normalem Alltag meiner wuseligen und burschikosen Art widersprechen. Deswegen fällt es mir auch so schwer, jemanden aus meinem „alten“ Leben einzuladen, mein „neues“ Leben kennenzulernen. Denn ich stehe konstant vor der Frage, welchem „Ich“ ich nun mehr Raum gebe. Auch wenn ich mich mit meinen neu entdeckten Eigenschaften angefreundet habe, sind sie noch kein Teil der Freundschaft mit der alt bekannten Person. Und wer weiß, ob sie/er mich dann noch akzeptiert?

Wenn ich ein anderes Land wirklich erleben möchte, dann ist mein Ansatz vorallem mitzuströmen. Wie ein Kind, dass nicht weiß, wie man mit Geld umgeht und einkauft, wie man dem Crush begegnet und welche Normen und Werte gesellschaftlich akzeptiert sind. Ich habe die Chance, alles von Neuem zu lernen. Nur dieses Mal bin ich älter und kann mich entscheiden, ob ich mich diesen neu erlernten Standarts anschließen möchte oder nicht. Mir wird die Möglichkeit gegeben, unerfahren und naiv auf Dinge zu blicken, doch gleichzeitig kann ich mich darauf verlassen, dass ich meine Erfahrungen mit mir trage und nicht alles blind aufnehmen muss. Ich muss meine Beine nicht rasieren, auch wenn das hier alle anderen sonst schon machen. Als Kind sind wir diesem Standart ausgeliefert, denn er ist der Einzige, den wir kennen. Wenn wir ihm nicht gerecht werden, sind wir erstmal komisch und irgendwie fehl am Platz. Ich denke, dass ich hier nicht nur von Kindern spreche, sondern von allen Menschen, die nicht die Chance hatten, diese Standart zu hinterfragen und eine Alternative zu dem ihnen Bekannten kennenzulernen.
Als etwas reiferes Kind habe ich jetzt die Chance, mich zu entscheiden. Ich kann mich etscheiden, wo ich gerade ein Schwamm sein will, der alles aufsaugt und mitfließt mit dem Vibe um mich herum und wo ich mich darauf verlassen möchte, dass ich weiß, wie die Dinge laufen und wer ich bin… Ich kann hin und her switchen zwischen Bekanntem und Unbekanntem, zwischen Sicherheit und Unsicherheit, zwischen Kontrolle und Flow, zwischen Lernen und Leren, zwischen Aufregung und Ruhe.

Wenn ich also weit weg bin und mich keiner kennt, dann muss ich dieses Experiment (das ausprobieren anderer Charaktäre) nur vor mir selber rechtfertigen. Doch erlaube ich mir das? Licht auf meine unerforschten Eigenschaften und Seiten, Wünsche und Fantasien zu werfen? Im ersten Moment fühlt sich das fremd an und tatsächlich falsch. Es passt nicht in das Bild, das ich jeden Morgen im Spiegel sehe und das ich mehr oder weniger bewusst versuche, aufrecht zu erhalten. Ist es das, was wir Authenzität nennen? Das Festhalten an einer einzigen Person? Oder steht Authenzität mehr für das Folgen eines Impulses im Moment, auch wenn dieser Impuls unserem Spiegelbid widerspricht?

Was bedeutet es eigentlich, für einen (kurzen oder langen) Moment die Person loszulassen, die wir meinen zu sein? Was bedeutet es, sich der eigenen Unwissenheit zu stellen und die anderen um Erklärung und Hilfe zu fragen? Wer bin ich dann, wenn ich all das Wissen, dass ich über die Jahre gesammelt habe, erstmal über Bord werfe? Wer bin ich, wenn ich mich von meinem depressiven Charakter verabschiede? Wenn ich jahrelang so gelebt habe, woher soll ich dann wissen, wie jemand lebt, der glücklich ist? Wie fülle ich die Leere als Mutter und Hausfrau, wenn meine Kinder ausziehen? Und wenn ich all mein Leben nach dem Erfolg in meinem Beruf gerichtet habe, wer bin ich dann in der Pension? Wer bin ich außerhalb dieser Funktion, die zu meinem Lebensinhalt geworden ist?

 מה זה נשאר?

Was bleibt?

Es scheint mir, dass wir unserer Identität die Zweige abscheinden und den Baum vorallem in die Höhe wachsen sehen wollen. Der Stamm wird viele Wunden tragen und wenig Schatten spenden, doch schon von Weitem sichtbar sein und Platz für viele andere gleichaussehende Bäume schaffen.

Es passt für mich zu unserem linearen Denken (dazu ein Artikel: https://charleseisenstein.org/essays/climate-change-the-bigger-picture/) und der Frage, warum wir etwas tun oder warum wir jemanden lieben..

Ja, warum überhaupt Israel, was hat das denn mit meinem Studium zu tun? Und warum stecke ich so viel Zeit und Energie ist das Lernen einer Sprache, die vielleicht 9 Millionen Menschen auf dieser Welt sprechen? Ich habe nicht vor mich hier einzubürgern und genauso wenig bin ich jüdisch…

Wieder einmal kommt die Motivation von tiefer her. Vielleicht von der Neugierde heraus, die Menschen hier in ihrer Routine kennenzulernen und meinen Blick zu erweitern. Was ich dabei lernen werde und wie mich das als Person weiterbringt? Keine Ahnung. Und genau dieses Zugeständnis, keine Ahnung zu haben, das macht mir manchmal Angst. Es bringt mich in eine Position von Ratlosigkeit und Abhängigkeit. Kontrolllosigkeit. Aber es öffnet auch Türen zum Verständnis der Komplexität dieser Welt und der Erkenntnis, dass alles andauernd fließt und im Wandel ist. Und meine momentane Ahnung im nächsten Moment ihre Bedeutung verliert, oder gar umschwingt und sich das Gegenteil offenlegt.

Ich denke an eine Chinesische Parabel, die mir mein Papa vor Jahren geschenkt hat und die mich seit dem begleitet:

Der chinesiche Bauer

Vor dreitausend Jahren herrschte in China ein grausamer und selbstsüchtiger Kaiser. Zum Schutz seines riesigen Reiches ließ er eine 6000 Kilometer lange Mauer errichten. Bei dem geforderten Frondienst kamen viele seiner Untertanen ums Leben.

Zu jener Zeit lebte in China ein alter Bauer, der in der einfachen Welt, die er liebte, nur zwei Dinge sein eigen nannte: seinen einzigen Sohn und sein Pferd. Eines Tages lief ihm das Pferd davon, und so war der Bauer noch ärmer als zuvor. Nachdem die Nachbarn davon gehört hatten, kamen sie herbei, um ihn zu trösten: Was für ein Unglück, dass dein Pferd weggelaufen ist!

Der alte Mann aber fragte: Woher wollt ihr wissen, dass dies ein Unglück ist?

Einige Tage darauf kehrte das Pferd zurück, gefolgt von sechs anderen wilden Pferden, die der Bauer zähmte und in seinen Dienst nahm. Auf diese Weise wurde der Wohlstand des alten Mannes gesteigert. Die Dorfbewohner bemerkten dies und kamen zu ihm und lobten: Was für ein Glück du hast mit deinen sieben Pferden!
Der Bauer aber sann eine Weile nach und antwortete: Wie wollt ihr wissen, dass es ein Glück ist?
Am gleichen Nachmittag beschloss der einzige Sohn des alten Bauern, auf einem der wilden Pferde auszureiten. Er wurde jedoch aus dem Sattel geworfen und verletzte sich schwer, so dass er seine Beine nicht mehr brauchen konnte. Da kamen Verwandte und Bekannte und sprachen: Was für ein Unglück, dass dein einziger Sohn nun ein Krüppel geworden ist!

Der alte Chinese aber gab zurück: Wieso könnt ihr wissen, dass dies ein Unglück ist?

Am folgenden Tag kamen die Abgesandten des Kaisers in das Dorf und befahlen, dass alle gesunden jungen Männer sich zum Bau der großen Mauer melden müßten. So wurde jeder junge Mann aus der Gegend zur Zwangsarbeit verpflichtet, nur der Sohn des alten Bauern durfte zu Hause bleiben. Da kamen die Ältesten der Stadt zu ihm und priesen ihn: Was für ein Glück du nur hast, dass dein Sohn nicht für den Mauerbau eingezogen wurde!

Doch der Bauer sah sie an und meinte: Was gibt euch die Sicherheit, dass dies ein Glück ist?

Nun wurden die Stadtväter nachdenklich und fingen an, sich zu beraten. Nach einem Tag kehrten sie zum alten Bauern zurück und teilten ihm mit: Wir haben eingesehen, dass du der weiseste Mann in ganz China bist. Wir würden es deshalb als grosses Glück ansehen, wenn du unser Gemeindevorsteher würdest.

Ein letztes Mal fragte der alte Mann: Woher wollt ihr wissen, dass dies ein grosses Glück wäre?

Mit diesen Worten lehnte er das hohe Amt ab, denn er kannte das Geheimnis des Glücks!

(Aus Beat Imhof: Wahrheit & Weisheit, S. 84, Rothus Verlag, Solothurn 1995)

Hat wer Recht? #3

„Was weißt du eigentlich über den Konflikt?“ fragt mich Safae. Sie gibt zusammen mit Abiya den Kurs mit Arabern und Juden, wegen dem ich ursprünglich hierher gekommen bin und hat mich zu einem Treffen eingeladen, um sicher zu gehen, dass ich weiß, in was ich mich da reinstürze.
Was ich weiß über den Konflikt? Ich stutze und bin erstmal überfordert. Wie antworte ich auf solch eine Frage? Sie ist Muslimin und ich will ihr zeigen, dass ich nicht „zu den Juden gehöre“, aber Fakt ist, dass ich bisher 99 % meiner Zeit mit nicht-religiösen oder jüdischen Israelis verbracht habe und die Perspektive der Araber, die in Israel leben, kaum kenne. Ja, natürlich habe ich mich über die Besetzung der palästinensichen Gebiete informiert (https://972mag.com/ , https://www.youtube.com/watch?v=7ayiO1Gl6lo ) aber auch hier ist das hauptsächlich Information von linkspolitischen Juden. Den realen Kontakt zu Arabern in Israel hatte ich nicht, außer Fawzi, einem palästinensischen 23-jährigen Schuhverkäufer aus Bethlehem. Ich weiß noch ganz genau, wie aufgeregt ich war, endlich „die andere Seite“ kennen zu lernen. Er hat mich und Amina für eine Nacht aufgenommen und uns durch die Stadt gefahren, uns die „wichtigen“ Orte gezeigt. Erst die Friedenstaube von Banksys, dann eine Kirche in der Wüste (Fawzi spricht von dem friedlichen Miteinander von Christen und Muslimen), die 500 km lange Mauer, die zwei Welten voneinander trennt, die Altstadt mit den Obstverkäufern auf den Straßen und zu guter Letzt ein wunderschönes Restaurant, abseits gelegen, mit Blick auf die Berge. Da mich meine Neugierde wie ein quängelndes Kind immer wieder in die Seite piekst, habe ich meine typischen Fragen gestellt: „Was macht ihr so während einer Intifada?“ – „Aus Spaß gehe ich manchmal für 5 Minuten raus mit einer Dose und spray irgendwas; den Rest der Zeit warten wir ab und schauen die Nachrichten. Und ja dieser Ort hier fühlt sich an wie ein halbes Gefängnis. Die Präsens der Mauer ist immer zu spüren. Aber hey. Ich bin hier als ein Freund.“ Mit seinem letzten Satz hat er mich gebremst. Ich hab ein paar Sekunden gebraucht um ihn zu verstehen. Er ist nicht mein Interview-Partner. Sondern möchte mir als Mensch begegnen.

Genauso kompliziert wie der Konflikt selber, ist es, zu erklären, was ich darüber weiß. Denn jede Antwort die ich gebe, macht nur Sinn, wenn ich sie relativiere mit all den anderen Informationen, die ich habe. Denn scheinbar kann keine Antwort für sich alleine stehen, ohne jemanden damit anzugreifen. Ich erinnere mich gut, wie es war, mit dem Bus von Bethlehem nach Jerusalem am Grenz-Checkpoint zu stehen, und auf die wenigen Palästinenser zu warten, die aus dem Bus geklettert sind um ihre Arbeitsvisen vorzuzeigen um in das ihnen sonst verbotene israelische Gebiet zu gelangen, während Juden und Touristen gemütlich im Bus sitzen blieben. Doch genauso haben mich die Geschichten derer berührt, dessen Vorfahren im Holokaust umgekommen sind und dessen Eltern in Israel Schutz gesucht haben. Sobald ich nur eine Geschichte erzähle, scheint es, als nähme ich Position ein.

Doch was weiß ich konkret, Fakten-technisch? Die folgenden groben Daten bilden einen kleinen Überblick:

  • Seit ca. 1870 : Hauptsächlich Ashkenazi (Osteuropäische Juden) in kleinen Wellen ins „Heilige Land“ und bilden Siedlungen in den Gebieten von Zfad, Tiberias, Jerusalem und Hebron
  • 1945 – Ende des 2. Weltkrieges
  • 1948 – Das Jahr, in dem die UN für das Bestehen des Israelischen Staat stimmt (Israelische Unabhängigkeit) – Juden aus aller Welt kommen und unterstützen die zionistische Bewegung, etliche Palästinenser werden aus ihrer Heimat vertrieben
  • 1967 – 6 tägiger Krieg – Annektieren von West Bank, Gaza, Golan Hights und Sinai (heutiges Ägypten)
    Alon (President der sogenannten linken Arbeiterpartei) – Plan wird umgesetzt: strategisches Umranden der palästinensischen Gebiete durch Siedlungen und Trainingsplätze des Militärs
  • 1973 – Yom Kippur Krieg – nach dem Angriff von Ägypten und Syrien wird Sinai an Ägypten zurückgegeben
  • 1979 – Friedensvertrag mit Ägypten “Camp Davi” + PLO (Palestinian Liberation Organization) wird legitimiert in der West Bank
  • 1997 – Oslo Protokol: die Westbank wird in 3 Zonen (A,B,C) geteilt, wobei in den dicht befölkerten Zonen A und B das Israelische Militär unter Kontrolle ist und buchstäblich machen kann, was es möchte
  • 2000 – 2005 2. Intifada: Bau der Mauer, die die Westbank von den Israelsichen Gebieten trennt, Grenze zu Gaza wird geschlossen

Soll ich ihr also all das sagen? Wie kann ich ihr beweisen, dass ich nicht blind in diesen Kurs hineingehe? Dass ich mir bewusst bin über die Komplexität und die vielen Facetten und die hohe Emotionalität, die das Thema mit sich bringt? Und wie mache ich deutlich, dass meine Neugierde einfach überwiegt? Dass ich einen tiefen Wille spüre, diesen Konflikt und die Menschen, die einen Teil davon bilden zu verstehen und dass ich dabei sein will, wenn es um den Versuch geht, Musik zu nutzen, um sich einander anzunähern… ?
Mein Körper wird heiß, ich spüre Schweißperlen auf meiner Stirn, meine Stimme klingt eng und mir steigen Tränen in die Augen. Ich glaube, sie erkennt, wie wichtig es mir ist…

Überall mal gewesen

Nach einem langen Tag, schon auf dem Weg nach Hause, stelle ich mein Fahrrad bei dem Second-Hand-Laden ab und mache mich auf die Suche nach einem hebräischen Kinderbuch und dem ersehnten Stabmixer. Die Frauen im Laden sind super nett und bringen mir ein paar neue Wörter bei, unter anderem die Übersetzung für „gastfreundlich“. Nur ein paar Minuten später verlasse ich den laden und muss feststellen, dass mein Fahrrad weg ist. Ich hatte es aufgerundet vielleicht 1 Stunde lang besessen, wovon ich es eine halbe Stunde lang mit platten Reifen auf der Suche nach einer Tankstelle geschoben und kurz als Leiter genutzt habe um eine Zitrone zu pflücken.
Der Traum, die
ernorm chaotischen und energieraubenden öffentlichen Verkehrsmittel zu meiden ist für’s erste also geplatzt. Anstatt meinen Weg in Richtung Zuhause fortzuführen, folge ich dem Rat der anderen Kunden im Laden und mache mich auf den Weg zur Polizei. Es gibt eine sogenannte Kamera-Pflicht für Läden/öffentliche Geböude, also besteht die Möglichkeit, das Fahrrad zurück zu bekommen. Mit einem mulmigen Gefühl und schlechtem Gewissen über den Verlust mache ich mich auf den Weg zu den „Hütern der Stadt“. Ich war davor noch nie bei der Polizei und hatte es auch in sowohl naher als auch ferner Zukunft nicht vor. Skeptisch mache ich mich auf den Weg.

Es ist dunkel als ich bei dem eisernen Tor ankomme. Ein paar Meter weiter sehe ich im Gebäude einen Polizisten genüsslich auf seinem Platz sitzen.
Nach ein paar Versuchen, macht es ein lautes Geräusch und das Tor geht auf. Ich glaube,
sie haben mich gesehen.
Ich gehe zum Empfang und werde als erstes nach meinem Pass gefragt. Natürlich hab ich den nicht dabei. Also doch zurück nach Hause um dann eine Stunde später vollig übermüdet zurück zu kommen.
Ein Beamter führt mich in einem abgelegenen Raum und wir setzen uns an einen mit Kaffe beflecktem Tisch. Der Beamte ist auffällig entspannt. Er redet mit mir über belangloses Zeug während er das viel zu lange, irrelevante Formular ausfüllt, das mir wenig Hoffnung macht. Aber seine Lässe-faire Laune steckt mich an. Ich frage ihn, ob einer der Beamten mich nach Hause fahren könne, da ich so müde sei. Er meint, er würde sich drum bemühen. Wir gehen zurück zum Empfang und während ich darauf warte, dass sich einer von ihnen bereit erklärt mich mitzunehmen, erzähle ich von meiner angeblichen ar

gentinischen Herrkunft und lächele über die spanischen Lieder, die der Beamte aus den bekannten Soupshows anzustimmt. Dann gibt es das Startsignal und ich lasse mich auf der Rückbank eds Polizeiwagens nach Hause fahren. Wie alle anderen auch, sind die beiden Polizisten völlig baff von meinem Hebräisch. Sie erzählen von ihren Deutschkenntnissen und von den Diebstälen, die ihren Alltag gestalten. Als sie mich endlich zuhause rauslassen, falle ich hundemüde ins Bett. Im Halbschlaf frage ich mich, welche Erfahrungen andere mit ihnen wohl machen. Andere, die keine jungen, weiblichen, blonden Touristin_innen sind…

Ende des Nomadentums

Den ganzen Tag drinnen zu sein, ermüdet mich. Manchmal habe ich das Gefühl, mir würde die Decke auf den Kopf fallen und alles zieht mich einfach nur nach draußen. Aber es hat auch viel schönes, so ein eigener Ort. Gestaltet mit den wenigen Dingen, die ich mitgebracht habe. Hier und da ein Detail, ein Licht, ein Bild, eine Kerze. Euphorie kommt in mir hoch wenn ich zum ersten Mal die Läden der Umgebung erkunde, auf der Suche nach Orten, an denen ich mich wohl fühlen könnte, die genau das Essen verkaufen, das ich mag. Gutes Öl und Kakao, Datteln und frisches Gemüse, Tef-Mehl und Tahin.

Ich besuche meinen einzigen Bekannten hier in der Gegend in der Eisdiele und bringe meine Wäsche in einen Waschsalon. In einem Schreibwarenladen besorge ich rote Folie und bekleide damit meine Küchentheke. Beim Blumenladen hole ich frische Erde und topfe die vererbten Pflanzen meines Vormieters um.
Ich verabscheide mich von der sporadischen Barbi-Bettlaken-Lösung und ziehe die übrig geblieben Nägel aus den Wänden.
Teller und Gläser sortiere ich neu und die Möbelstücke schiebe ich hin und her, bis sie einen Platz gefunden haben, wo sie, obwohl sie leer und ungenutzt sind, den Raum trotzdem wohnlich machen. Wirklich viel Zeug hab ich nicht, deswegen behalte ich die DVDs und Platten von unserem Vormieter, auch wenn wir für keins der beiden ein Abspielgerät haben. Ich stelle seine Überbleibsel vereinzelt in der Wohung auf und tue so, als herrsche Leben.

Ich weiche Kichererbsen ein, koche sie und stampfe sie zu Hummus, denn einen Stabmixer gibt es auch noch nicht. Ich mische meinen gepflückten Zatar mit Öl und Sesam, bereite Salat zu, richte alles fein her in einer ovalen Schale und setze mich auf den Boden für mein erstes Mahl in meinem neuen Zuhause.

Mevin aus Beit Hilel wohnt für einen Monat in Jaffo, dem älteste Stadtteil von Tel-Aviv, um dort einer öffentlichen Werkstatt zu arbeiten. Ich komme ihn gemeinsam mit Tadita und Ranon besuchen. Der Raum ist schlank gebaut und hoch, mit grellem Licht und weißen Wänden. Zumindest jene, die er nicht schwarz bemalt oder beschriftet hat.

Mevin ist mein lebendiges Vorbild, wenn es darum geht, nach dem Bauchgefühl zu handeln und einfach das zu machen, was sich gerade richtig anfühlt. Ohne groß darüber nachzudenken. Ich erinnere mich gerne an den meterlangen Bus, den er in eine Oase, ja eine komplette Wohnung umgebaut hat. Mit wunderschönen Einzelstücken aus Holz, einzigartigen Lampen und zwischendrin seinen Skizzen. Von außen umwachsen von wildem Gesprüpp. Jetzt sitzt er in einer Ecke, wie eingesperrt in einem Kellerzimmer. Ein paar seiner Werke hat er mitgebracht, sie stehen vereinzelt in dem Raum verteilt. Ich frage ihn, ob er immernoch so gut wisse, sich selber zuzuhören. Er schaut mich an. Die Stadt macht ihm zu schaffen. So viel sie auch zu bieten hat, sie ist gleichzeitig auch so unglaublich gierig.