Der Maulbeerbaum

Eine Woche bin ich hier. Jeder Tag beginnt mit einem kleinen Spaziergang druch die Gräser, Yoga und einem Fruchtshake. Dann geht die Arbeit los, Steine schleppen, Zement zubereiten, Schubkarren mit Kies befüllen und herumfahren, Erde, Sand und Stroh vermischen und die Lücken in der Reifenmauer stopfen. Mittagessen kochen, Duschen und dann Geige üben bis die Sonne untergeht, nahe dem Maulbeerbaum, dem Treffpunkt des Hofes. Vor dem Abendessen kommen die Kinder zu dem Baum, der hinter dem Gemeinschaftsraum mit Früchten nur so protzt. Das Mädchen mit den blonden Locken und der kleine Junge, der nie auf meine Fragen antwortet. Tagsüber spielen die beiden auf dem Sandberg. Sie sitzen da, die beine gespreizt, schaufeln den Sand von einer Seite zur anderen, füllen Formen und schütten sie wieder aus. „Ich helfe gerne“- meint sie, während wir die Eimer mit Sand für den Hausbau füllen. „Ich helfe gerne, weil ich es mag, mit Leuten zu sein. Und ich mag es mit dir zu sein, weil du dieses schöne Lied auf der Geige gespielt hast.“

Der Maulbeerbaum. In meiner Familie gibt es sogar ein Lied über ihn. Wir kannten sie alle in der Stadt. Zumindest glaubten wir daran. Nach und nach wurden sie weniger. Einen gibt es noch, am Harras, direkt an der Riesenstraße, hinter der Bushaltestelle. Nicht unbedingt der romantischste Ort, um Beeren vom Boden aufzuklauben. Das letzte Mal, als ich dort war, wollte ich der Frau, in die ich verliebt war, diese kostbaren Früchte zeigen. Ich bin auf den Baum geklettert und habe sorgsam ein paar gepflückt. Ich erinnere mich an sie im Licht der Straßenlampe um 1 Uhr nachts, Lippen und Zähne lila-blau.

Doch nicht nur der Baum bringt die Menschen hier zusammen. Auch der neue Mitbewohner Aviv. Er baut den Biemer, den er als Soldat im Dienstwagen mit sich fährt, im Gemeinschaftsraum auf und Menschen kommen zu Besuch. Er zeigt, dass er auf der Suche ist. Aviv wirkt irgendwie unschuldig, noch nicht so abgebrüht. Vor zwei Monaten hat er seine Sachen gepackt, den Großteil hinter sich gelassen, und ist losgezogen, hier der erste Halt. Er probiert sich aus mit Gemüse und Tee und nen Dreier hat er sich auch nicht entgehen lassen. Leider verschimmelt das Gemüse im Kühlschrank, das Mädl von letzter Nacht hat ihm die Freundschaft auf Facebook gekündigt und mit den Hofvermietern hat er sich zerstritten. Doch seine „Unvollkommenheit“ bringt einen Charme mit sich. „Plötzlich gibt es hier Community“ – meint Maya, als wir am Lagerfeuer seinen Abschied feiern. Wir singen Bella Chao und Ederlezi, reichen Brot mit Hummus wie einen Joint herum und reden über feministischen Porno. Mit einer kleinen Frage bringt Aviv die Menschen zum erzählen. Seine Suche steckt an. Mir wird klar, wie sehr ich eigentlich bezweifle, dass sich Menschen wirklich verändern können. Als wäre Authentizität etwas, mit der wir gesegnet sind oder eben nicht. Als wolle ich ihnen keine Chance geben, die ganzen Schichten der Erziehung und der Normen langsam abzutragen und sich selber näher zu kommen. Als wäre ihre Veränderung erst zu akzeptieren bei ihrer Vollendung. Ich genieße von dem Mut derjenigen, die diesen Weg bereits gegangen sind, und verurteile die, die nach Orientierung suchen. Welch Kontradiktion. Welch Hochmut meinserseits. Dabei begegne ich fortlaufend inspirierende Menschen, die mir von dem Moment erzählen, an dem sie beschlossen haben, etwas zu verändern. An dem sie in die Wüste gegangen sind um die Stille und Einsamkeit aufzusuchen. An dem sich eingestanden haben, dass sie noch etwas zu lernen haben, Dinge, die vielleicht schwierig sind zu akzeptieren. Denn sie dem Sinn des Lebens, den sie sich bisher erschlossen haben.

Ein Frosch hüpft an mir vorbei. Ich sitze Im Gemeinschaftsraum auf dem Hof von Udi und Maya, mal wieder. Es fühlt sich vertraut an hier. Ich kenne die verschiedenen Schlafplätze, in denen die beiden zeitweise schon gewohnt haben. Die Komposttoiletten, den Hühnerstall, die Selleriequelle und die jungen Eukalyptusbäume, die ich selber gepflanzt habe. Jedes mal wenn ich herkomme, ist etwas anders. Die Küche hier, der Schlafplatz dort. Neue Menschen hier vor Ort. Und ich, jedes Mal ein Stückchen anders. In unserem Wandel werden wir begleitet von den Pflanzen und Tieren, die dem Laufe des Jahres folgen. Als ich zum ersten mal hier war, war es staub trocken und meine Füße quälten sich mit den vielen kleinen Dornen zwischen den trockenen Gräsern. Es war die Zeit der Granatäpfel und der Feigen, der Notwenigkeit der Abkühlung im Teich. Mit der Regenzeit verwandelte sich der Boden zu grünem Samt unter den Sohlen und lud jauchzend zum spazieren ein. Zitrusfrüchte bildeten gelb-orangene Flecken zwischen dem Grün. Jetzt, ein halbes Jahr später, trocknen langsam die Halme und der Boden bekommt Risse. Die Wiese bekommt einen Stich an Violett, gemischt mit dem beige-braun der eingehenden Gräser. Kakteen sind nur so übersäht von Schneckenhäusern und Frösche werden nachts munter und lachen, streiten, flirten. Es ist die Zeit, wo die Schlangen aus ihrem Winterschlaf überwachen, die Wolken am Himmel immer seltener werden und die Vögel in Riesenschwärmen über unseren Köpfen vorbeiziehen. Sie machen hier ihre Pause, bereit für die Reise in den Sommer des Nordens.

Kurz bevor ich fahre, gehe ich nochmal über den ganzen Hof, bis an hintere Ende, wo der versprochene parkistanische Maulbeerbaum steht, der mit den langen zuckersüßen Früchten. Sie erinnern mich an dem Sirup aus Istanbul, den ich meinem Papa mitgebracht habe. Ich war mir damals so sicher, dass es eine solche natürliche Süße nicht geben kann. Ich wurde eines besseren belehrt.

Freude und Zorn, die Freunde des Zorns

Heute war ein Tag gefüllt von Emotionen. Vor allem von Freude. Und Zorn. Freude, weil ich von einer Freundin auf ihre Farm eingeladen wurde, um gemeinsam Musik zu machen und zu arbeiten. Freude, weil ich gemeinsam mit einem italienischen Musiker die Befreiung der Italiener aus dem Faschismus mit einem gefühlvollen Bella Ciao gefeiert habe. Freude, weil ich einen Vortrag über Wälder in der Stadt/ Stadt-wälder von Freunden von mir sehen durfte. Freude, weil ich ein Teil eines Ökohaus-Projekts geworden bin und auf zwei dünnen Matratzen auf einem Kiesboden liege, den ich ausgelegt habe, umgeben von Mauern, die ich aus Stein, Lehm oder Beton gebaut habe, im Halbfreien, mit Grillen, jauchzenden Katzen und quakenden Fröschen ganz nah.

Doch daneben ist eben noch ein anderes Gefühl. Nämlich der Zorn. Über die unsere anhaltende Ignoranz gegenüber dem Schmerz unserer Erde. Über die Ausnutzung der Situation um die Scheiße der letzten Jahre nur noch weiter zum Kochen zu bringen. Als würden sie nur darauf warten, dass sie wie der Kompost ihres eigenen Kods, auf 70 Grad erhitzt werden um dann wieder zu Erde umgewandelt zu werden. Denn sie wird uns überleben.

Ich möchte einen Moment einstehen. Und danken. Meinen Freunden, die ihren Zorn zeigen. Die sich nicht damit zufrieden geben. Die ihren Schmerz nicht in sich vergraben und bei sich selber die Schuld suchen. Die den Schmerz fühlen, auch wenn sie ihn selber nicht jeden Tag erleben. Die die Münder aufreißen, und doch nicht gehört werden. Die nicht aufgeben, dagegen zu sein. Egal ob sie Recht haben oder nicht, sie zweifeln das Normal an, gehen in Diskussion und bringen ihr Gegenüber zum Schwitzen.

Aber warte mal, es herrscht doch Solidarität. Das Wort ist zu dem neusten Schmerzmittel der Pharmaindustrie geworden. Es schenkt uns den Glauben, wir haben es in der Hand. Indem wir brav folgen, Instruktionen jeden Tag auf’s Neue versuchen nachzuvollziehen und warten, bis alles wieder zum alten hingelenkt wird. Dass wir uns gesundheitlich solidarisch gegenüber stehen ist eine Sache. Doch wie wir diese Solidarität ausleben, scheint nicht diskutabel. Und das ist das, was mir weh tut. Es bauen sich Fronten auf zwischen den Meinungsparteien. Es herrscht, wie meine Mama so gerne sagt, kein Spielraum mehr…

Aber warte mal, es herrscht doch Solidatität. Gegenüber den armen großen Firmen, die den Wohlstand unseres Landes präsentieren.
Doch was hat das verdammt noch mal mit uns zu tun? Schon in der Schule habe ich von dem Spalt zwischen Arm und Reich gelernt und den Auswirkungen der menschlichen Eingriffe in die Natur. Es stand verdammt noch mal in meinen Schulbüchern. Und ja, es kämpfen im Kleinen Abertausende Menschen für einen Umbruch, es gibt Kritiken ohne Ende, Menschen auf den Straßen, Konferenzen, Streiks… Doch die politische Richtung bleibt die Gleiche… Und wer das bisher noch nicht sehen wollte, der wird wohl wieder eine Ausrede finden. Obgleich wir überrumpelt werden von all den Auswirkungen unserer Politik der letzten Jahre. Und da ist Lesvos mit den 20.000 Menschen in einem Camp, die sich keine zwei Meter Abstand leisten können, nur ein Beispiel von vielen. Es wird seit 2015 „nach einer Europa-weiten Lösung gesucht“.

Ja, ich glaube, dass aus dieser extremen Ausnahmesituation auch unglaublich viele schöne Dinge entstehen können. Menschen ziehen zurück auf’s Land, wertschätzen lokale Produktion, lernen das einfache Leben wieder kennen, hinterfragen ihre Träume und ihre Realität. Das Leben wird auf den Kopf gestellt und neue Herausforderungen kommen auf, die uns neue Perspektiven aufzeigen. Doch es gibt eine Grenze. Und diese Grenze wird schon lange übertreten.
Es ist nur noch eine Frage der Zeit.
Es ist kein Spiel mehr.
Es wird heißer.
Es brennt.

Mit den Vögeln singen

Noch eine Nuss. Vielleicht ein Zitronenwasser? Keinen Kopf zum lesen. Geige? Eine Wahlnuss. Und ne Dattel. Und ne Matcha-Latte vielleicht? Mist, es gibt keine Milch. Also einfach pur? Etwas Honig dazu vielleicht. Hm. Noch ne Nuss, diesmal ne Mandel. Oder zwei. Ich setz mich mal hin. Heiß heute. Der Steinboden ist angenehm  kühl. Aber warte, ich sollte jetzt üben, abends sind zu viele Leute da. Noch ne Nuss, dann aber los!

Applaus. Ich komme erschöpft aus dem hinteren Zimmer raus. Mein Mitbewohner klatscht in die Hände. „Verstehst du jetzt, von welchem Stück ich gesprochen habe?“ – „Shifon (Roggenmehl)?“ fragt er. Ich lache. „Nein nein, Pugnani Kreisler. Unglaublicher Geiger. Ein Jahr lang hab ich daran geübt, dann hat es ein Jahr lang geruht und jetzt setz ich mich wieder dran.  Wow! Was eine Energie!“

An einer Straßenecke komm ich an einer kleinen Gruppe vorbei, sie fahren auf Rollschuhen und machen Turnübungen. Sie tollen rum und erinnern mich an die Zeit, wo ich mich mit meinen Freunden draußen getroffen habe um zu spielen. Oder als ich zum Bolzplatz gegangen bin und einfach mit denen gehangen hab, die dort waren. „Das ist wie die großen Ferien!“ sagt der eine, Blond-gefärbtes Haar, Wetter-gegerbtes Gesicht. „Ich kenn dich doch, oder? Woher?“ – „Das weiß ich nicht. Aber ich bin Teil des Stadtbildes.“ – „Stimmt, von der Ampel!“ Jetzt sehe ich auch seine grünen Keulen in dem kleinen Anhänger, auf dem er sitzt.
„Woher kommt dein Akzent?“ Eine neues Gesicht taucht auf.
„Was glaubst du denn?“
„Latein-Amerika!“
„OK, einverstanden! Und deiner?“
„Ich wünschte ich hätte einen!“
„Welchen würdest du wählen?“
„Latein-Amerikanisch“
„Im Englischen oder im Hebräischen?“
Sie grinst und klettert auf einen Straßenpfosten. „Meine Mama kommt aus Uruguai.“
„Ah, si hablas espaniol?“
„Si claro, de donde vienes?“
„De Argentina. Warte, und woher kenn ich dich, du mit den Rollschuhen?“
„Du hast bei unserer WG vorbei geschaut, weil du nach nem Zimmer gesucht hast. Hast du was gefunden?“
„Ne. Aber ich will auch einfach nicht mehr umziehen. Ich bin jetzt einfach Nomadin. Bis morgen um 6, hier am Straßeneck!“

Ich packe meine Sandalen in meinen Beutel, schwing ihn mir auf den Rücken und klettere die Luft-Wurzeln des Fikus hinauf. Dann setzte ich mich in eine kleine Kuhle eines dicken Astes, der einen Knick nach oben macht und von dünnen Wurzeln zu einer Seite bedeckt wird, wie eine Lehne, die sich an meinen Rücken schmiegt. Ich klappe mein Buch auf und versuche mich auf die Geschichte zu konzentrieren. Der Junge in Krähen-Form zerfleischt seinen Vater einer anderen Welt. Nach zwei Seiten klappe ich das Buch zu. Ich schaue den Menschen zu, die unter mir vorbei laufen. Probiere die Kamera aus, die mir ein Freund geschenkt hat. Sie ist leichter als die Analoge, die ich hab. Mal sehn, was bei dem Film raus kommt.

Ich versuche, weiter zu lesen. Doch mein Kopf schweift in alle Richtungen ab. Ich mag den Platz, irgendwie gemütlicher als ein Stuhl, hier tut mir der Rücken nicht weh. Aber ist es mir erlaubt, hier einfach zu sitzen? Und vor mich hinzudenken? Sollte ich nicht all diese freie Zeit nutzen, um „Gutes“ zu tun? Woher kommt überhaupt unser Verständnis für richtig und falsch? Ich schlag das Buch wieder auf. Der Junge, der jetzt keine Krähe mehr ist schaut seiner Mutter als junges Mädchen beim Kochen zu. Eine Katze klettert den Baum auf halbe Höhe hinauf und starrt mich an. Zweimal nimmt sie Position ein, um weiter zu mir hoch zu kommen. Sie hat hell-gelbe Augen und Weiße Flecken auf ihrem schwarzen Fell. „Dich kenn ich doch, du warst hier gestern auch, meine ich.“ Sie starrt mich noch einmal an, dann verschwindet sie aus meinem Blickfeld.  

Ich setze mich um, mit den Beinen in der Luft baumelnd. Vor mir eine dünne Wurzelwand, wie die Lehne eines Stuhls, nach vorne gedreht. Meine Aufmerksamkeit wird von den Vögeln gefangen. Ich fange an ihnen zu antworten, meine Lippen verschieden zu formen und suche nach Tonvariationen. Ich pfeife vor mich hin und schaue erneut auf die Leute unter mir. Ich mache Töne einer Eule. Als ich das in der Schule gelernt habe, meinten alle, es sieht aus als wenn ich einen Blowjob geben würde. Als ich es Aviva gezeigt war, war sie hellauf begeistert. Langsam dämmert es. Das mit dem Buch wird wohl nichts mehr. Ich lege es zur Seite. Die Äste umringen mich. Ich spüre, wie sie einladen, ein Teil dieses Baumes zu werden. Wie sie mich aufnehmen in ihre Welt. Ich bin kein Eindringling mehr. Ich fühle mich zugehörig.

Im Dunkeln laufe ich nach Hause, bewusst jeden Schrittes, klettere auf Mauern, drehe und hüpfe hier und da. Auf unserem Herd steht ein Laptop. Mein Mitbewohner kommt rein, mit meiner Wäsche in der Hand. Er legt sie ab, geht zum Ofen, und holt einen runden Leib Brot heraus. „Der ist für dich.“ Ich umarme ihn.
„Dieser Tag war völlig verrückt! Ich saß auf einem Baum. Und habe nachgedacht!“
„Ach ja? Erzähl!“
„Ich habe eine Mission! Ich will Teil der Erde sein.
Ich hab mich gefragt, woher wir unser Verständnis haben, was erlaubt ist und was nicht. Ich kann mich so schlecht davon lösen, was die Menschen um mich heraum und die Stimmen in meinem Kopf sagen. Andauernd in der Hoffnung und Pflicht, irgendwo dazuzugehören, Gleichdenkende zu finden. Aber weißt du? Dadurch bewege ich mich immer schwebend, in den Kreisen der Menschlichkeit. Ich will mich verbunden fühlen, zu der Erde unter mir, zu dem Ort, an dem ich bin. Ich will Teil von ihr sein, sie kennenlernen und von ihr lernen. Ich will mich auf ihr zu Hause fühlen.

Immer Wieder

Ich komme nach Hause und das Fahrrad von Zuf steht vor dem Gartentor. Sie kommt rausgelaufen und meint „Ich wusste, dass du das bist. Aber ich hab dich nicht gesehen! Ich wusste es einfach! Sie umarmt mich und wir gehen rein. Aviva, Non und Teo sitzen am Wohnzimmertisch. Nacheinander begrüße ich sie. Ich drücke Teo, gebe Aviva einen Kuss auf ihr Haar und gehe ins Bad um meine Hände zu waschen. Ich weiß, dass ich heute mit Aviva darüber reden werde, wie es weiter geht. In mir kommt ein mulmiges Gefühl auf.

Ich gehe zurück ins Wohnzimmer/ Küche und bereite mit Non unseren angefangenen Injira-Teig zu. Nachdem wir eine Stunde lang versuchen, die angeklebten Teile von der Pfanne zu kratzen, machen wir unser übliches Sauertag-Brot draus. „Ein glorreiches Versagen ist besser als ein Traum in der Schublade“, zitiert er ein jüdisches Sprichwort.

Ein wenig später kommt Aviva ins Zimmer und wir halten endlich das viel zu lang aufgeschobene Gespräch.

„Und nochmal, und ich sage das mit aller Aufrichtigkeit, du bist wundervoll und ich bin wirklich glücklich, dass du hier bist. Frag Teo, wie oft ich davon rede, wie toll du bist. Du bist wirklich ein Teil meines Herzens geworden. Doch ich habe mich in den letzten Tagen verloren, ich weiß nicht mehr, wie ich die Situation unter Kontrolle kriegen kann und bin außer Balance.. Die beste Indikation, dass was nicht gut läuft, ist Zuf. Sie ist aufgewühlt, findet keine Ruhe hier zuhaus und ich kann ihr keine Klarheit bieten. Sie redet von Paolas Zimmer und muss ihren Platz finden zwischen all den Erwachsenen um sie herum. Ich möchte meiner Tochter wieder Stabilität bieten. Als wir mit ihr alleine waren bei Teo, war sie ganz ruhig und hat ganz für sich gespielt. Ich möchte wieder Halt in diesem Haus finden.“

Als mich Non heute morgen bei unserem morgendlichen Lauf fragt, wie das Gespräch für mich war, habe ich von Erleichterung gesprochen. Die Dingen seien endlich klar und jetzt könne man damit umgehen. Doch ich hatte noch nicht verstanden, dass es mir weh tun würde, wieder Abschied zu nehmen. Jetzt sitze ich an meinem üblichen Platz am Harziot-Friedhof und eine Traurigkeit kommt auf. Wieder weiterziehen. Wieder neu orientieren und meinen Platz finden.

Am nächsten morgen ist eine Ruhe eingekehrt im Haus. Ich esse mit Zuf eine Grapefruit und bereite ihr ihren Frühstücks-Porridge zu. Dann spielen wir Theater und singen ein Lied über Smortut, unser eigenes Wort für Schwein. Wir erfinden unsere eigene Sprache, indem wir alle Wörter sammeln, die ich falsch ausspreche, und ihnen eine neue Bedeutung schenken. Aviva liest uns beiden ein Kinderbuch über Läuse vor, die ihren Weg über die Köpfe der Welt machen.

„Der Truck ist aber ne gute Alternative, oder?“ fragt mich Aviva. Ich stimme verhalten zu, wenn ich dran denke, dort ganz alleine zu sein. Ich will festhalten. An dem Gefühl Teil einer Gemeinschaft zu sein, einer Gruppe, dessen Berührung ich genieße und die mir Inspiration schenken. An dem Gefühl, mit einer Familie zu leben.

Noch vor ein paar Tagen, habe ich mir gedacht, mir ein Projekt mit den Nachbarn  zu überlegen. Die meisten kenne ich mittlerweile von meinem kleinen privaten Platz vor dem Haus. Eine Liedersammlung war die Idee und ein kleines Konzert, wo sie die Musik voneinander kennenlernen können. In unserer Straße wohnen Menschen von allen Nationen. Links neben uns kommt immer wieder russische Ska-/Tanzmusik auf, gegenüber mögen sie Reggea und ich habe türkische Lieder-Tipps bekommen.

Wenn ich jetzt gehe, bin ich wieder erstmal nur Gast irgendwo. Ich werde wieder meine Zeit brauchen, um mich neu zu orientieren, mich dem Rhythmus der anderen anzupassen, und meinen eigenen Platz zu finden. Ich werde wieder Zeit brauchen, um zu verstehen, wie ich einen Teil dieser neuen Umgebung formen kann und etwas machen kann, das nicht nur mich alleine betrifft.

Wenn ich jetzt gehe, heißt es, dass mein Kreis an Menschen wieder ein anderer sein wird. Ich kann nicht nach ein paar Tagen zurückkommen und Zuf erklären, dass sie mich plötzlich nicht mehr berühren darf und wir auf 2 Metern Abstand spielen müssen. Abschied nehmen fühlt sich jetzt endgültig an…

Fantasien #2

Wenn der Mond fast voll ist.
Meine Beine schaukeln in der Ferne,
über Gräsern und Berge,
blicke ich mit wolkigen Augen,
und vollgeschneitem Mund.
Von großer Dankbarkeit geprägt dieser Gleichheit der Unmenschlichkeit.
Vergessen im Licht der steinernen Ruinen von Misopotanien,
den Silberweg entlang gelaufen ohne zu ahnen,
wie die Welt einmal ineinander laufen wird,
in einender versinken und darauf bauen wird,
Dass es immer einen ärmeren als uns geben wird.
Wem kann schon dieser Gedanke schmeicheln,
wenn die rote Farbe der Unbeschriebenen verschwindet
Und das Licht auf ihre Schatten fällt?
Wer traut noch seinen Augen?
Wer will noch sehen?
Meine Beine schaukeln in der Ferne,
dort geb ich frei raus Rat hinaus.
Doch Zuhaus, aus Samt ein Vorhang,
zwischen Vorstellungen verschlossen.
Und wenn wir doch dagegen laufen,
im Eifer des Gefächts versehentlich,
den Schleier mit zum Boden reißen,
sind wir vorallem viel beschäftigt,
alles auf sein alten Platz. Das hat niemand gesehn.
Hoffentlich, die Stange noch heile und morgen früh, das Theater der Probe bereit…
Hoffentlich, die Routine geht weiter und ich, nicht mitten im Weg.
Mit meinen Hirngespenstern.
Vielleicht war das hinter dem Vorhang gar nicht so schlimm,
vielleicht hab ich nicht richtig geschaut.
Die haben das Spiel schon so oft gemacht, die wissen schon, was es jetzt braucht.
Hoffentlich…

Können die Toten mich hören?

Wir sitzen zwischen den steinigen Quaderförmigen Gräbern des vergessenen Friedhofs, in dem die Harziot langsam anfangen zu trocknen. Ihre gelb braunen Köpfe umringen die unseren. In dem Schatten eines Baumes erzählt mir Non von seinem Leben. Zehn Jahre hat er gebraucht, um nach dem „nur“ zehn-monatigen Wehrdienst wieder klarzukommen. Er ist nicht der Einzige, der mir erzählt, sich komplett zerbrochen zu fühlen danach. Mit 30 hat seine Familie die letzten fehlenden Hausarbeiten für die mit 18 abgebrochene Schule abgegeben, sodass er doch noch studieren kann. Jetzt ist er Anwalt und kümmert sich um Tierrechte, verteidigt Aktivisten, Geflüchtete und Migranten. In den letzten Tagen hat er mir immer wieder Links von Filmen und Artikeln geschickt, die über Situation Palestinas aufklären, die Konditionen in den besetzten Gebieten aufzeigen oder wie im Falle Bilins dokumentieren, wie sich der 8-monatigen Kampf gegen den Mauerbau und die damit einhergehende brutale militärische Enteignung der Einheimischen ihrer Grundbesitze und Olivenbaumfelder entfaltet hat. Er erzählt von der politischen Abhängigkeit der Linken sowie auch der Rechten von den Ultra-Orthodoxen um eine Mehrheit zu bilden und von der Sonderheit dass seit einem halben Jahr keine neue Regierung gebildet wird und dementsprechend weiterhin die regieren, die auch davor an der Macht waren.

Während er mir so erzählt, schreibe ich in meinem Heft die neuen Wörter mit und er erklärt mir die grammatikalischen Details und Zusammenhänge der Wörter und diktiert mit zynsichem Unterton patriarchistisch/ zionistische Gedanken:

„Ich werde niemals den Palästinensern vergeben, dass sie uns dazu bringen ihnen so etwas anzutun.“

„Bis sie nicht ihre Kinder lehren, das Leben zu lieben anstatt uns zu hassen, wird es keinen Frieden geben“

Als wir über die gescheiterten vermeintlichen Versuche von Friedenspakten sprechen, zitiert er:

„Die Palästinenser verpassen nicht eine Möglichkeit, ihre Möglichkeiten zu verpassen.“

Eine Anschuldigung gegenüber den Palästinensern auf ihre Verweigerung hin, die 22 Prozent ihrer übrig gebliebenen Gebiete, auch noch zu teilen. Non meint, es wird überhaupt nicht versucht, Frieden zu schaffen. Wenn die Zionisten es wirklich wollten, dann würden sie nicht immer weitere Teile der Westbank besiedeln. Abgesehen von den ökonomischen Profiten, die sie aus den Testungen der neuen Sicherheitssytseme und Abwehrmechanismen ziehen, würde Israel in ihrem zionistischen Kampf um die gesamten Gebiete des heiligen Landes unter anderem auch von  amerikanischen Evalgelisten unterstützt werden, dessen Sieg den Messias bringen soll.

Nach ungefähr zwei Stunden entschuldigt sich Non für seine Faselei. Dabei mag ich es. Er ist lustig und ich merke, dass es ihn bewegt. Ich höre ihm gerne zu. Mit meinem neugierigen fragenden Blick lade ich ihn ein zu erzählen.

Dann will auch ich ihm einen Gedanken mitteilen. Gestern, nachdem ich wieder einmal auf den Friedhof zum Üben gegangen bin war ich kurz enttäuscht von mir selbst. Ich hatte nicht wirklich an meiner Technik gearbeitet sondern stattdessen mich im Klang von Harmonien gebadet, mit Doppelgriffen und Gesang darüber. Es war einer jener Momente, in denen ich mich nach dem gemeinsamen Spiel sehne, nach einer tragenden Begleitung, die mir ermöglicht einzutauchen ins Gefühl und loszulassen. Und genau das war der Punkt, wieso ich kurz darauf dankbar wurde. Denn genau das, ist eigentlich so wunderschön. Ich kenne nicht nur eine Form des Übens. Ich kann damit spielen, experimentieren und jedem Tag mit einer anderen Herangehensweise begegnen. Machmal brauche ich Struktur und Detail um mich zu erden, manchmal will ich die Seele baumeln lassen, mein ganzes Herz mit rein geben und einfach frei dem folgen, wohin mich meine Geige führt. Manchmal bin ich in einem geschlossenen Raum, mit Notenständer und Metronom, und manchmal draußen in der Natur und erinnere mich an Übungen oder denke mir welche aus. Es gibt Tage, da will ich einfach Musik hören und lesen ohne selber zu spielen, oder ich will sitzen und einfach mit Volksliedern mitspielen und es gibt Tage, da will ich aktiv sein, hart arbeiten an einem klassischen Werk und die Geige herausfordern.

Und auf Nons Faselei bezogen: Balance heißt für mich nicht unbedingt Gleichheit sondern was zählt ist unsere Begegnung. Auch wenn das heißt, dass ich heute wenig spiele, sondern mit Kopfhörern durch die Straßen laufen und aufmerksam Musik analysiere. Auch wenn das heißt, dass ich heute kaum etwas sage, sondern ihm einfach nur zuhöre. Es geht nicht um exakte Verhältnismäßigkeit, nicht ums Abwiegen. Balance ist für mich eine Bewegung zwischen Gegensätzen, die sich gegenseitig ablösen, sich begegnen, aufeinander aufbauen, miteinander spielen. Auf und ab, vor und zurück, Erleben und Verstehen, Wahrnehmen und Kreieren, lehren und Lernen. Wie das Wasser am Meer de Steine, Muscheln und Sand überflutet, zurückebbt und sie dann wieder entblöst. Manchmal kommt eine große Welle, die sich leicht zurück lehnt bevor die nächste sie überholt und manchmal ist es ganz ruhig und nur ein schüchternes Rauschen ist von einzelnem Schwappen wahrzunehmen. Manchmal ist das Wasser wild und gefählich, und manchmal so sanft und weich, dass man seine unendlichen Tiefen vergisst.

Die Geschichten anderer

Bücher gestapelt.
Voll mit Bildern
und Geschichten,
der tausend Gesichter,
dessen Leben für Kurz, das meine schien.
Als Katze,
schlich ich wachsam
durch ihre Lebenswege,
bat für jene,
warme Geste,
kühle Hand
und Zärtlichkeit.
Die Augen weit offen,
die Ohren gespitzt,
folgte ich dem Rhythmus
ihres Gangs.
Lief im Gleichschritt,
Hand in Hand,
erlebte was mir unbekannt.
Und nach paar Tagen zog ich weiter,
über weiße Dächer, kleiner,
bunt bemalter Häuser,
bis ich Durst bekam und
meine Neugier sich
ein neues Fenstersims annahm.
Drinnen sah ich Bücher,
gestapelt, mit den Bildern und Geschichten von
tausend Gesichtern.
Geschichten der anderen.
Ganz oben, ein Buch, halb offen,
mit drei Punkten auf halber Seite,
die Einleitung,
mein eigenes Leben
geschehen
zu sehen.
Einzustehen.
Mit Würde, mein eigenes Scheitern erleben.
Weder Außen auszuhalten
noch dem Innen vorenthalten.
Neue Welten ausgestalten.

.

Greifbar

Eine Nachbarin singt und schimpft mit kräftiger Stimme zu den Göttern. Schräg gegenüber trinkt ein Nachbar seinen Kaffee auf einem einsamen Stuhl, den er auf die Straße vor sein Haus gestellt hat. Ich sitze unter Nons Fenster vor dem Haus, da wo ich immer hingehe, wenn ich etwas Ruhe brauche. Es gefällt mir hier, in der sonnigen staubigen kleinen Gasse, die ab und zu von Fahrzeugen durchqueert wird. Ein Wasserstrahl läuft durch die kleine Rinne in der Mitte der Straße, Spühl-Schaum an der Oberfläche. Ein älterer Mann kommt vorbei und meint, ich solle mir doch ein Kissen holen. Er hört meine Musik und erzählt mir von seiner türkischen Herrkunft. Damals war er in einer jüdischen Gemeinschaft, in einer jüdischen Schule und hatte kaum türkische Freunde. Jetzt lebt er hier seit 30 Jahren und spricht mit Nachbarn aus aller Welt. Ich freue mich über seine Geschichte.

Die letzten Tage habe ich mich gefragt, worüber ich überhaupt erzählen sollte, wenn wir doch eh alle das selbe erleben. Sitzen zuhause und versuchen, die neuen Herausforderungen zu verstehen. Doch gestern Abend wurde ich von Maya Angelou an den Wert der Poesie und der imaginären Berührung erinnert. Der Klang und der Rhythmus ihrer Gedichte hat mir eine sonderbare Ruhe geschenkt. Das Zischen der Konsonanten lässt mich erleben, auch wenn ich im halbdunklen auf dem kalten Küchenboden sitze und den Sinn der Worte nicht verstehe.

Unsere Augen für Schönheit sind manchmal wie altes Spielzeug ganz hinten im Kellerschrank vergessen. Von Spinnenweben bedeckt; davor die schweren Werkzeuge und Lexika, die fein säuberlich und übersichtlich im Regal einsortiert sind und an die Aufgaben des Alltages erinnern. Also erzähle ich. Was mich berührt. Was ich sehe und höre. Rieche und schmecke.

Jeden Morgen schnappe ich mir meinen Mitbewohner Non um eine Runde im Viertel zu drehen. Wir laufen durch die Straßen von Shapira, klettern an Zäunen hoch und pflücken die vergessenen Zitronen. Wir sammeln Holz und Blätter für neue Blumenkästen und Non zeigt mit das älteste, rot geschrichene Haus eines damaligen Scheiches, noch vor der Unabhängigkeit 1948. „Lauf für mich mit“ ruft mir eine Frau im Rollstuhl zu, nachdem ich sie lachend grüße.
Im Vergleich zu dem Viertel HaTikva (Die Hoffnung), in dem ich noch vor 2 Wochen gewohnt habe, wirken die Häuser hier wie Villen. Es ist nur ein paar Straßen weiter, einmal über die Autobahn und vorbei am misterieusen dunklen Busbahnhof, der wie eine illegale Shoppingmall aussieht. Auch hier sind wir im Süden Tel Avivs, der bekannt ist für seine ärmere Schicht der Bevölkerung und vor dem ich von so manchem schon gewarnt wurde. Dunkle Haut und Krause-Haar ist hier durch sämtliche Flüchtlinge aus nord-ost-afrikanischen Staaten vertreten. Und daneben die alternative Szene und die mir bekannten Aktivisten, die sich hier weit mehr zuhause fühlen als zwischen den Hochbauten des schicken Norden Tel Avivs.

Gemeinsam mit Aviva und Zuf gehe ich durch die Blumenfelder auf dem versteckten Friedhof der muslimischen Soldaten, die Israel unterstützten und daher mit den anderen Arabern die Gräber nicht teilen (dürfen). Für Zuf ist es wie ein Labyrinth, die Gräser wachsen ihr bis zu den dunklen Locken. Ihr gelber Regenmantel hat die selbe Farbe wie das dichte Blumenfeld. Mit ihren 5 Jahren hat sie den besten Blick auf das Leben zwischen den Blättern und Sträuchern, sieht die kleinen Tiere auf dem Boden und spürt die Zweige ihre Arme streichen. Wir streunern wir durch die Pfade und ich lerne über einheimische Pflanzen und Vogelgesänge. Cleo kann sie alle unterscheiden, so wie es die Kinder meines Großvaters damals auch gelernt hatten. Das meiste Wissen ist nicht durchgesickert bis zu meiner Generation und daher der Durst groß.

Neben diesen Momenten der Idylle, gibt es Tränen, Wut, und Explosionen aufgestauter Energie. Die Kleine darf ihren Halb-Vater nicht berühren, sondern nur auf Abstand sehen. Sie kann nicht mit anderen Kindern spielen und muss ihre Freude, ihr Lachen, ihr Spiel und ihre Umarmungen auf die 3 sogenannt „erwachsenen“ Menschen reduzieren, mit denen sie hier zusammen lebt. Der Radius ist ein Haus mit zweieinhalb Zimmern und kleinem Hof mit Blumen und Kräutern. Außerdem haben wir die Straße zum Nachbarschafts-Fußballplatz und Zirkuszelt ernannt. Jeden Tag kommen neue Spiele auf, es werden Schatten-Planen und Blumenkästen gebaut, Jonglagebälle gebastelt, Pferde eines unfreundlichen Besitzers gefüttert und Gerüche geraten. Ich werde zur Fußballtrainerin, zum Trampolin, zur gefräßigen Katze und zur Speise des Löwen, die von den Wellen seines durstlöschenden Trankes überschwemmt wird. Die Kreativität wird verdoppelt und die Scham halbiert. Was zählt ist, dass wir es uns hier so angenehm wie möglich gestalten und füreinander da sind, auch wenn sich alles so abstrakt und unwirklich anfühlt. Und wenn ich ehrlich bin, ich lerne und spiele und erlebe und bin dankbar, dass ich irgendwo mithelfen kann.

Die Reichweite meiner Handlungen fühlt sich beschränkt an. Mein Blick zentriert im Greifbaren. In den Farben der Blumen, in den Liebesritualen der Tauben. Greifbar sind die Begegnungen mit meinen Nachbarn, die Berührungen meiner Freunde im Haus, und die Telefonate mit meinen geliebten Menschen über See. Greifbar sind die Momente, in denen wir unter unserem neuen Tuch-Dach sitzen und Salbei Tee trinken. Es ist dunkel und über uns knurrt und miaut es. Es ist Frühling und die Kater streifen über die Dächer und kämpfen um ihr Revier. Ich bin müde und geh schlafen.

Licht aus

Es ist ein 01:01 Uhr Nachts. Ich liege auf einer dieser Matratzen, die ich aus den arabischen Haushälten kenne. Ca. 5 cm dick und für ine Person. Leicht zu transportieren und zu verstauen. Ich höre den Regen auf die Dächer der Nachbarn prasseln. Eigentlich sollte die Regenzeit schon längst vorbei sein. Doch dieses Jahr ist alles anders. Der Winter hält an, die Wüste blüht. Seit ein paar Tagen gibt es einen ganz besonderen Geruch in der Stadt. Ein Frühlingsduft, frisch und warm. Wenn ich mit dem Fahrrad durch die leeren Straßen fahre, bläst mit ein leichter Wind entgegen. Ich werde diesen Ort vermissen. Ganz ganz doll.

Vor ein paar Stunden saß ich noch auf dem Teppich in unserem Wohnzimmer und habe versucht mir einen Sarai in Bajad (arabische Kompositionsform mit ausgewählten Tönen) auf der Geige beizubringen. Da bekommt mein Mitbewohner einen Anruf von unserem Vermieter. Ich soll morgen ausziehen. Als Schemer um Erklärung bittet, wird er so laut angeschrien, dass ich es nicht nur durch das Telefon höre, sondern auch durch die Decke. Notitz an mich selbst: Wohne niemals mit deinem Vermieter in einem Haus.

Ob es die Geige ist, das weiß ich nicht. Doch rigendwas hat seine Frau, Ora (aus dem Hebräischen: Licht), zu einem wütenden Schatten werden lassen. Nach unseren misslückten Versuchen, mit ihr persönlich zu reden und zu verstehen, wann es denn möglich sei um zu üben, bekam ich nur folgende Nachricht.

„Hört auf zu spielen. Es nervt enorm. Es reicht!“

Wir machen einen Spaziergang. Mit hängenden Schultern laufen wir schweigend nebeneinander. „Es ist wie im Film.“, meint Schemer. Er entschuldigt sich bei mir für etwas, das er nicht getan hat. „Mach dir keine Sorgen, wir finden schon was. Eine Freundin zieht nächste Woche um und da ist noch ein freies Zimmer in der neuen Wohnung. Die hat mich eh gefragt, ob ich zu ihr ziehen will. Wir kriegen das schon hin. Ich kann dann im Wohnzimmer schlafen.“

Es dauert nicht lange um meine Sachen zu packen. Ich hab ja nicht viel. Ein paar Klamotten, die Fotos an den Wänden, die gesammelten Steine, meine Notizhefte und die Kameras. Etwas Essen und Kulturbeutel, das war’s. Wir bringen das Zeug zum Auto und setzen uns auf den Boden in dem irgendwie leeren Wohnzimmer, es fehlt der Jahreskalender an der Wand mit den Gartentips und den schlnen Zeichungen. Jede ein Kissen unterm Po, lehnen wir uns an der Couch an, so wie es zu unserem abendlichen Ritual geworden ist. Wir haben in den letzten Tagen eineinhalb Staffelt Sex Education angeschaut und lenken uns damit jetzt ab, während wir auf die Antwort von Amnun warten. Hoffentlich kann ich bei ihm und Tia die nächsten Tage schlafen.

Nach einer halben Folge bekommen wir das o.k. Ich nehm einen Beutel aus dem Gefrierfach, packe meinen Rucksack und schließe die Tür hinter mir. Die Lichterkette, die wir noch vor Kurzem aufgehängt haben, leuchtet noch.

Fantasien

Bis zum Kragen stehen uns die Dinge, mit denen wir uns sonst im Alltag beschäftigen. Und plötzlich fällt der Boden weg, mit all dem Müll, und wir stehen wie auf einem Podest ganz alleine, ganz nakt im nichts. Ich blicke an mir runter und betrachte diesen krummen Körper. Meine Zehen sind länger als ich dachte, die Sehnen sichtbar, wenn ich nach Gleichgewicht suche. An meinen Knien entdecke ich eine Schürfwunde und erinnere mich an den Tag, an dem mich die Wellen mitnehmen wollten. Ich betrachte mein Schamhaar und seine goldrötliche Farbe. Ich muss mich etwas nach vorne beugen um es zu sehen. Mein Blick folgt der Linie bis zum Bauchnabel. Doch die Richtung der einzelnen Haare ist undeutlich. Ich verkleinere den Abstand zwischen Kinn und Brust und entdecke einen kleinen roten Fleck, etwas links der Mitte, auf halben Höhe zur Brustwarze. Kommt der von dem Baum, auf dem ich gestern war? Manchmal juckt es mich, wenn Teile der Rinde abbröckeln und auf meine nackte Haut treffen. Ich atme tief ein und frage mich wohin mit mir. Wege tauchen auf und verschwinden im nächsten Moment. Ganz langsam taste ich mit dem großen Zeh, ob da nicht doch etwas ist. Doch es bleibt leere Schwärze. Ich blicke erneut auf meinen Körper herunter. Jetzt sind wir hier wohl zu zweit. Allein.

Zeit zum denken. War das nicht das, wovor die Gurus der Sekten so Angst haben? Dass ihre Mitglieder plötzlich verstehen, dass sie sich für ein anderes Leben entscheiden können? Dass sie sich befreien können, von der scheinbar einzigen Wahrheit…  Ist unsere Gesellschaft vielleicht jetzt bereit, sich mit etwas auseinander zu setzen, dass sie sonst nicht sehen will? Bin ich bereit dazu?

Was bedeutet handeln jetzt?
Wie bin ich weiterhin ein Teil des Ganzen, wenn meine physische Präsens auf den Straßen verschwindet?
Wo finde ich meinen eigenen Wert, wenn plötzlich alles Gewohnte wegfällt?

Können wir duch die Isolation unserer Fantasie wieder begegnen?

Ich stelle mir einen Michael Ende vor, der ganz „Fantasien“ kreiert hat. Oder John Ronald Reuel Tolkien, der die Orks und Elfen in seinen Büchern zum Leben erweckt hat. Doch ist das nicht die selbe Realität, nur mit anderen Charaktären? Können wir uns überhaupt eine neue Realität ausmalen, solange wir ihr nicht begegnen? Vielleicht wird uns ja gerade die Chance geboten, diese Alternative abzutasten, zu erspüren, ein Stück weit auszuleben.

Wohin wollen wir die Energie dieses weltweiten Erdbebens hinleiten? Ja, wie sieht eine Revolution in unserer Zeit überhaupt aus? Findet sie auf der Straße statt? Oder ist sie ganz leise? Bedeutet sie, sich Zeit nehmen zum Denken und langsam unbemerkt diese scheinbare Wahrheit zu verlassen? Oder ist sie ganz einfach wie mein Mitbewohner sagt:

„Glücklich Sein in der Isolation. Das ist Revolution!“

Um mich herum scheint ein Konformismus zu entstehen, der mir selbst auch nicht fremd ist. Den Richtlinien zu folgen scheint mir gerade in vielen Aspekten das Richtige zu sein. Und mich mit mir selber auseinander zu setzen, habe ich in den letzten Monaten noch als Privileg gesehen, das ich mit offenen Armen empfangen habe. Jetzt ist die Isolation von außen angekommen, und die Rebellin in mir meint, sie müsse raus in die Welt, anstatt zuzuschauen, wie Staat und Autoritäten die Situation kontrollieren. Von Zuhause hab ich den Nahen Osten immer als brodelnde Quelle gesehen. Jetzt bin ich hier, schaue nach Europa, Deutschland und den Balkan und fühle mich weit weg von dem Geschehen, in das ich so gerne eingreifen würde.

Es wird Abend. Es regnet und die Entscheidung, noch rauszugehen, wird mir aus den Händen genommen. Erleichterung. Der Tag ist rum und all die Dilemmas auf morgen verschoben. Ich packe meine Geige aus und erlaube mir Musik zu machen. Einfach nur zu spielen, meine angefangenen Texte auszugraben und ihnen Form zu geben. Ich fange Melodien auf, die entstehen und schenke ihnen Achtung. Auch wenn es mal wieder die gleiche Tonart ist. Auch wenn es um Tonleitern und gebrochene Akkorde geht. Auch wenn es vor Einfachheit nur so strotzt.