Mami

Meine Vermieterin ruft mich. “Mami! Komm mal rüber!“ Ich hatte mir zur Feier des Tages (die Sonne scheint und noch kann ich mich einigermaßen sorglos auf die Straße begeben) ein bodenlanges Kleid angezogen und einen bunten Schal um die Schultern gelegt und war gerade bereit, meinen Füßen etwas frische Luft zu gönnen und zum Markt zu gehen.

Ich denke an den Film “Mami”, den ich noch vor ein paar Wochen gesehen habe und grinse schweigend in mich hinein.

Dann laufe ich ums Haus und klopfe an ihrer Tür. „Warte Mami. Bin gleich da“ Sie macht die Tür auf und bietet mir einen Stuhl in dem weiß glänzenden Wohnzimmer an. In einer Ecke sehe ich ein Aquarium neben einem 3 mal so großen Flachbildfernseher. Auf dem Tisch stehen mindestens 10 Packungen Zucker, daneben einige Kilo Reis, 4 Flaschen Bratöl und eine Cola. „Wie lange wohnst du schon hier? Und wie viel bezahlst du Schemer? In bar? Was machst du sonst? Bist du Studentin?“ Ich beantworte ihre Fragen eine nach der anderen und frage sie dann: „Ist was los?“ „Ja, Mami, es gibt ein Problem. Dein Mitbewohner macht mit dir Business.“ Sie ascht ihre Zigarre ab und wiederholt: „Wie haben hier ein richtiges Problem.“ Sie erklärt mir die Gesetze zum Thema Untermiete und dem großen Fehler meines Bewohners, ihr nicht von meinem Einzug zu erzählen. Ich zeige Verständnis und frage nach einer Lösung. „Geduld Mami. Erstmal hör mir zu. Wir haben hier ein Problem.Der macht mit dir Business“ Ich versuche ihr zu erklären, dass mein Mitbewohner ein Freund von mir ist, dass wir Dinge auf Vertrauensbasis regeln und dass das mit dem Sublet Gang und Gebe ist heutzutage. “Er hat einfach kein Geld, um die Miete alleine zu zahlen. Du weißt, wie schwierig die Situation hier ist.“
– „Aber er war nicht ehrlich zu uns. Er hat Zick Zack gemacht, ist nicht direkt zu uns gekommen. Ich bin wütend!“
– „Er hat glaub ich einfach nicht dran gedacht. Aber bitte, rede selbst mit ihm, bringt die Karten auf den Tisch.“
– „Nagut. Jetzt muss ich mich aber erstmal beruhigen. Bis dahin, schweige darüber!“
– „Ich kann das nicht gut, ich bin ein offenes Buch.“
– „Wenn es um euch geht, dann lügst du nicht, aber uns macht ihr was vor! Ich erhöhe die Miete ums Doppelte!“
Mir steigen Tränen in die Augen. „Dann ziehe ich wohl aus. Das kann ja keiner bezahlen. Du kennst die Situation gerade. Es ist nicht einfach.“
„Wein nicht. Ich bin nicht sauer auf dich. Er hat einen Fehler gemacht! Er soll 10.000 Shekel zahlen und du lebst da umsonst. Er soll verschwinden!“
Mit Knoten im Hals erwidere ich: „Er ist ein Freund von mir.“
„Hör auf zu weinen! Ich will dir nicht weh tun! Wenn kein Corona wäre, würde ich dich jetzt umarmen. Aber er hat einen Fehler gemacht! Ich bin richtig sauer.“
„Bitte rede mit ihm.“
„Ich muss mich erstmal beruhigen. Was hast du gesagt, studiert du? Spielst du ein Instrument? Unterrichtest du auch? Ich habe Hackbrett gespielt. Und ich spiele Darbuke. Ohne Noten, einfach so.“
Wir wechseln für eine Weile das Thema und sie beschließt: „Gut, ich werde mit ihm reden. Für meine Verabredung bin ich eh schon zu spät. Aber sag ihm. Alles nur wegen dir! Du hast ein gutes Herz. Nur wegen dir mache ich das!“

Ich hole Schemer in die Wohnung. Er will alleine mit ihnen reden. Ich warte draußen und hoffe, dass er nicht mit ihnen diskutiert, dass er nachgibt.“ Nach einer viertel Stunde klopfe ich an die Tür.
„Du kommst genau zum richtigen Zeitpunkt!“
Schemer sitzt, dünn wie er ist, auf dem Prangerstuhl, und versucht den Abstand einzuhalten, um sich vor dem Virus zu schützen.
„Wir hatten ein gutes Gespräch. Ihr bekommt einen neuen Vertrag, gleicher Mietpreis. Schemer hat seinen Fehler eingestanden und um Verzeihung gebeten. Er ist ein guter Mensch. Aber Schemer, du weißt, dass sie dich verteidigt hat, oder? Sie ist eine gute Freundin.”
– “Er ist auch ein guter Freund.” entgegene ich und denke an all die Male, die ich bei ihm Unterschlupf gefunden hab, zu den Zeiten, in denen ich kein Zuhause hatte. Dann hab ich mich auf sein Sofa gesetzt, mir wurde warmer Chai in die Hand gedrückt und er hat mich gefragt, wie es mit der Liebe ausschaut.
Sie fährt fort: “Weißt du, ich erinnere nur gute Dinge. Jemand neben mir weiß, dass er mir etwas angetan hat und ich komme und umarme ihn. Ich habe keine Erinnerung an schlechte Dinge. Am Ende geht es nicht ums Geld. Am Ende sind wir alle Mensch.“ Ihre Augen füllen sich mit Tränen.
„Wenn kein Corona wäre, würde ich dich jetzt umarmen.“ sage ich.

Wir stehen auf. „Schemer, Nimm das hier mit, den Reis! Jetzt komm schon! Ich werf ihn dir zu. Fängst du?“ – Ich sehe wie schwer es ihm fällt. Mit dem Reis in der Hand gehen wir nach draußen.

Hier Sein

Es ist die Zeit gekommen um zu lesen. Um die Dateien auf meinem Laptop zu ordnen, um den Kompost vor meinem Haus zu beginnen. Es ist die Zeit gekommen, sich von den Mengen und den faszinierenden, unglaublichen, einmaligen und nicht-zu-verpassenden Events zu distanzieren und im Privaten nach Freude zu suchen. Anstatt der gegebenen Strukturen seinen eigenen Weg gehen… Mit der Nachricht, dass ich als Deutsche nicht mehr einreisen darf, falls ich Israel für einen Moment verlasse, habe ich innerlich Erleichterung verspürt. Ich konnte den Versuch loslassen, Jordanien zu sehen. Und Ägypten. Und all die anderen Plätze, die ich noch zu sehen hatte, bevor ich diesen Ort wieder verlasse. Die ich als erfüllte Träume irgendwie von meiner To-Do-Liste streichen wollte.
Dabei wünsche ich mir seit Wochen eigentlich nur Zuhause zu sein. Nicht mehr irgendwelchen Erlebnis-Lichtblitzen hinterherjagen. Den Versuch aufzugeben, das imense Puzzel dieser Region fertig zu stellen. Einfach nur hier sein. Nicht mehr zu planen. Mich nicht mehr vorzubereiten für die Zukunft, die sich von Moment zu Moment verändert. Es ist Zeit für Simplizität. Für’s Geige üben, Spazieren gehen und schreiben. Für’s Hebräisch lernen. Zeit, um die Reste vom Markt mitzunehmen, und zu Hause sauber einzusortieren. Zeit, um einfach nur hier zu sein und die Dinge zu machen, die ich schon so lange machen möchte. Einfach nur, weil sie mich interessieren, weil sie mir gut tun, weil sie mir wichig sind. Mir. Und nicht irgendwem.

 

“No one occupied Germany, it came from inside.”

Ich laufe durch die Allee von Bäumen und beginne zu weinen. An jedem Baum ist ein kleines Schild auf dem Boden mit einem Namen drauf. In meinem Ohr der Audio-Guide, der mir etwas Hintergrundinformationen zu dem Gebäude erklärt. Ich finde meinen Weg zu der Kinder-Gedenkstätte und weine erneut los. Auf dem Boden sehe ich DACHAU, AUSSCHWITZ, …. Und all die anderen Namen der 24 KZ-Stammlager. Ich bin erstaunt darüber, wie ein Ort eine Athmosphäse tragen kann. Ich wusste nicht, wie sehr mich das Thema berührt.

In dem Museumsbereich wird die Geschichte von Anfang an aufgerollt. Sie erzählen von den Verschwörungen gegen Juden schon vor 2000 Jahren durch das Christentum. Das Judentum (das als das auserwählte Volk gesehen wird, die Botschaft Gottes zu übermitteln) hat Jesus nicht als Messias anerkannt und wurde für seinen Tod und damit als Mörder Gottes beschuldigt. Seit dem wurde das Volk im Rang als niedriger gesehen (später mit der Rassentheorie war das dann auch biologisch begründet) und bekam immer wieder die Schuld in die Schuhe geschoben. Sie wurden als Parasiten gesehen, die die Zerstörung der gesamten Menschheit herbei führen. „Die Juden sind unser Unglück“ hieß es. Klingt gar nicht so fremd zu der Aktion des ungarischen Ministerpräsident Viktor Orban, der verordnet die Universitäten zu schließen, „weil es viele Ausländer gibt“.

“First they came for the socialists, and I did not speak out—
Because I was not a socialist.

Then they came for the trade unionists, and I did not speak out—
Because I was not a trade unionist.

Then they came for the Jews, and I did not speak out—
Because I was not a Jew.

Then they came for me—and there was no one left to speak for me.”

– Martin Niemöller

In der Führung wird deutlich, wie Flucht in den 40ger Jahren aussah. Sie nennen es „Grenzenlose Gleichgültigkeit.“ Auch damals wurde die Füchtlingskriese bedauert, doch kein Land war wirklich ebreit, etwas daran zu verändern und die Juden aufzunehmen. Die Passagiere der St. Loius wurden von Cuba und den USA zurückgewiesen und erst im letzten Moment nach ihrer Rückkehr von den westlichen Küstenstaaten in Europa aufgenommen.

„Where to go? Nobody knows. To flee… as far as possible from the danger.”

Im Laufe der Besichtigung verstehe ich mehr und mehr, warum mir das Thema so nahe geht. Sein Kern ist ein Rassismus in brutalster Form, den es auch heute noch überall gibt, der durch den Virus entblößt wird. Es fühlt sich an, als würde eine blickdichte, dunkle Plane abgenommen werden, unter der der Westen so unantastbar schien, so fortschrittlich, so unbesiegbar. Plötzlich greift die Angst wieder über. Es wird gehamstert und misstraut. Der versteckte Rassismus, der schon durch die AFD wieder ans Licht gebracht wurde, wird konkreter und alltäglicher. Alle Asiaten sind Chinesen und vermeindliche Gefahr. Ob Touristen oder Einheimische mit Migrationshintergrund, ob infiziert oder nicht. Die chinesische Nachbarin wird plötzlich zur Gefahr und das Desinfektionsmittel zur Waffe. Wie sich dieser Rassismus anfühlt, habe ich in Ramallah gespürt. Zum ersten Mal in meinem Leben wurde ich als Gefahr wahrgenommen, weil ich Deutsche bin.

Ich bin die letzte, die das Museum verlässt. Als ich den Audio-Guide zurück gebe, frage ich den Angestellten, wie er diese Stimmung Tag ein Tag aus ertragen kann. „Nicht jeden berührt das Thema emotional. Die meisten sehen es als geschichtliche Informationsquelle.“ Tja. Zu viele Juden sind wohl in den letzten Monaten meine Freunde geworden, um nicht mit dieser (unserer) Geschichte mitzufühlen. Eine Geschichte, die sich immer realer anfühlt. Ich bin weit gereist, um von den Geschehnissen in meiner Heimatstadt München zu lesen; der Stadt in der Hitler nach seinem Militärsdienst mit seiner Politik begann.

“Alles ist besser als Bibi.”

Heute morgen bekomme ich einen Anruf. „Wähle Likud. `Ganz` ist die falsche Wahl. Er gehört der Linken an. Wähle Likud!“

Ein kurzer Blick hinter die Kulissen: Likud ist eine rechte Partei mit dem Vorsitzenden Benyamin Nitanyahu. Derzeit versucht er, eine “Immunität”/חסינות (Khasinut) zu ergattern, um nicht für die persönliche Nutzung des staatlichen Geldes verurteilt zu werden. Alle kennen die Story. Er wird auch verantwortlich gemacht für die gewaltvolle Behandlung der ethiopischen Gemeinschaft. Im Norden von Israel, in Kiryat Shmona wurde vor Kurzem von einer Dame um eine bessere gesundheitliche Versorgung gebeten. Bibis Reaktion darauf: “You are boring us!”. Es gab einen großen Aufruhr, doch in den Umfragen zählt Kiryat Shmona weiterhin zu einem der Bezirken mit den meisten Bibi Wählern. Er verspricht den Orthodoxen Juden finanzielle Unterstützung und dem Staat ihn zu beschützen, wie kein anderer.

Nach dem Anruf bin ich kurz überrascht darüber, dass sie meine Nummer haben. Nur kurz. Dann erinnere ich mich, dass „die Linken“ hier wie ein Schimpfwort verwendet wird und werde ich mir bewusst, wie aggressiv dieser Wahlkampf eigentlich ist. Es ist ein wahrer Hahnenkampf. „Wählt Blau-Weiß oder Erdogan“ lautet der Spruch der Opposition. Im Grunde gibt es nur diese zwei Optionen, um eine Regierung zu bilden.

Straßen reden kaum über etwas anderes. Mir wird erzählt von Zeiten, da haben sich Demonstranten mit Zelt und Sack und Pack auf eine der zentralen Boulevards begeben um dort für einige Wochen zu demonstrieren. Doch seit dem hat sich nichts zum Positiven gewendet. Das Leben wird immer härter.

Während ich auf meinen Hummus warte, spricht mich der Mann gegenüber an. Er hat vielleciht noch zwei Zähne und seine Unterlippe hängt ein wenig nach vorne. Er trägt das T-Shirt der Partei Likud. „Bestelle nicht zu viel, gehe sparsam mit deinem Geld um“ meint er zu mir, als ich zu dem Hummus auch noch Falafel und Salat bestelle. Ich frage ihn, wieso er für die Partei auf seinem T-Shirt arbeitet. „Es gibt Geld. Ich habe keine Wahl.“

Husam ruft mich an. Ich frage ihn, wen er wählen wird. „Die Araber wählen die Araber, die Russen die Russen, und die Juden wählen die Juden. Jeder die Gruppe, wo er dazugehört.“ Vor nicht allzu langer Zeit habe ich auch begriffen, warum das mit der Ein-Staat-Lösung für die meisten Juden keine Option ist. Denn dann sind die Araber plötzlich in Überzahl und die Juden verlieren die Mehrheit in dem Statt, den sie für sich aufgebaut haben.

Strategie steht vor tatsächlicher Demokratie, denn die Angst, dass Bibi nach 10 Jahren weiterhin Minister-Präsident bleibt, ist groß. Freunde von mir arbeiten bei der Opposition. Wirklich unterstützen tun sie deren Meinung auch nicht, „doch alles ist besser als Bibi“. So lautet die Devise. Das Land jauchzt nach etwas Neuem, nach Veränderung, nach Hoffnung. „Ich muss ständig daran arbeiten, nicht zynisch zu werden, bei dem was hier passiert. Ich will es weiterhin ernst nehmen, doch es fällt mir nicht leicht.“ Morgen ist der 3. Versuch eine neue Regierung zu wählen. Die Menschen werden ungeduldig.

Letztens habe ich einen Bekannten nach all den Büchern in seinem Schrank gefragt. „Geheimnisse“, Regelwerke, Erläuterungen rund um das Judentum. Außerdem die Tanach, die 3 heiligen Bücher. Er habe sie im Schrank stehen, doch es ist mehr ein Teil der Einrichtung, als das er tatsächlich darin liest, meint er. Er erzählt ein wenig von seiner Art, die Religion zu leben und weiht mich dann in ein Gerücht ein: Es liegt etwas in der Luft. Das Jahr 2020 soll einen großen Umschwung bringen.  In verschiedenen Schriften wird darauf hingewiesen, es gibt mehrere Zeichen von unterschiedlichen Quellen. Der Gallilee Sea soll den höchsten Wasserspiegel seit Jahrzehnten erreichen. Es wird ein Krieg herrschen, der schlimmer ist als das, was bisher besteht UND es wird keine Regierung geben. Ja. Man sagt, dass der Messias kommt.

Bei einer Sache kann ich ihm nicht widersprechen. Es hängt etwas in der Luft. Außer Abgasen, qualmt es von Frustration, Hoffnungslosigkeit und Agression. Freunde fragen mich, wie man denn Motivation finde. Auch ich spüre eine Unruhe, die mich die Tage über begleitet. Bin nicht hier und nicht dort. Will zu Hause sein, weg von all dem Geschehen, doch nicht allein sein. Will Menschen treffen, doch nicht reden. Ich bin müde, ausgelaugt. Ich versuche lieb zu mir zu sein und mich zu erholen. Aber von was? Von dem gescheiterten Versuch, die Grenze nach Jordanien zu überqueren? Von den hektischen Tagen in Ramallah? Von den fremdartigen Rufen auf der Straße? „Corona! Corona!“ schrien sie, als ich nur im Taxi an ihen vorbeifuhr. „They don’t understand! So stupid people! So closed minded! You are German so they think you have the Corona.”, meinte Rana. Ich durfe bei ihr und ihrer Familie schlafen. Sie waren einige der Wenigen, die zumindest gebrochenes Englisch sprechen. Ich wurde gut behandelt. Doch es fiel mir nicht einfach. Sie liebten mich vom ersten Moment an für meine europäische Herrkunft. Andauernd wurde von dem guten, fortschrittlichen Westen gesprochen. Sie gaben sich alle Mühe, mir vegetarisches Essen anzubieten und mir zu erklären, warum ich doch an Gott glauben sollte. Nach einem Tag hatte ich genug und bin mit den letzten paar Shekel nach Jerusalem gefahren. In mir kam ein Gefühl von Zuhause auf. Ich ging zu den halboffenen Ständen, die noch zu später Stunde geöffnet waren und fragte nach einem Keks mit Dattelfüllung. „Zum Wohl“ meinte der Verkäufer und ich verstand seine Geste. Ich bat beim nächsten Laden um meinen Becher mit heißem Wasser aufzufüllen und auch da war mir schnell deutlich, dass ich dafür nicht zahlen müsse. Ich erinnerte mich an den Moment, als ich das letzte Mal in einem Imbiss fragte, ob ich vom Wasserhahn trinken könne und der Verkäufer nur meinte: „Du darfst nicht. Du musst“.
Im Bus zum Hauptbahnhof saßen mir Vincent und Monika gegenüber. Sie waren verwundert, dass niemand den leeren Sitz neben ihnen nutzte, obwohl der Bus voll war. Also erklärte ich den zwei Touristen die Geschlechtertrennung bei der Sitzordnung unter den ortodoxen Juden. Ich wurde mir wieder bewusst, dass dieser Ort mir nicht mehr fremd ist. Ich war stolz darauf, ihnen den Weg zum Bus zurück nach Tel Aviv zu zeigen und es machte mir nichts aus, in dem vollen Bus die Stunde Fahrt zu stehen. Ich war einfach nur froh, ganz nah an meinem zu Hause zu sein.

Second Chance

Ich habe mir vorgenommen, der Wüste noch einmal Mal zu begegnen. Ihrer forschen, direkten Art und ihrer unergründbaren Weite. Ich habe mir vorgenommen, meinen ersten Eindruck nicht den ganzen Farbkasten füllen zu lassen. Ich würde ihr gerne Vertrauen schenken.
Das letzte Mal bin ich geflüchtet. Zum Glück. Doch mittlerweile habe ich mein Spinnennetz durch den Norden des Landes gewoben und fühle mich sicher dort. Die Menschen sind mir weniger fremd und ein paar Türen zeigen gen Süden. Vielleicht bin ich jetzt bereit, mich zu öffnen für diese fremde Welt.

Als das Friedenstreffen ein Ende annimmt, atme ich durch. Ich weiß nicht, wohin es geht, wo ich schlafe, was als nächstes passiert. Ich habe keinerlei Vorstellungen und fühle mich leicht. Rotem steht mit weiten Klamotten, einer Brille und einer schiefen Cap im Speisezelt und knabbert an den Resten. Ich fange an mit ihr zu quatschen, wir schauen den Kindern beim spielen zu und irgendwie sind wir schnell verbunden. Sie lädt mich zu einem Tee ein und wir quatschen bis in die Nacht hinein. Ich freue mich, mein Bett mit jemandem zu teilen. Am nächsten Morgen wache ich auf, die Zuckerrüben-Pflanzen bilden einen Meter über meinem Kopf eine Krone und die Sonne scheint mir ins Gesicht. Ich beschließe, noch 2 Nächte an diesem Ort zu bleiben und ihn auf mich wirken zu lassen. Wie bei meinem ersten Besuch in der Wüste, gibt es hier eine Gruppe junger Leute, die für die Touristen zuständig sind. Sie kümmern sich darum, dass der Ort schön ist, und bekommen dafür einen Schlafplatz, Essen, und einen Lohn. Vor einem Jahr hat Rotem das ganze in die Hand genommen, und den Platz neu aufgebaut, ihm Leben gegeben. Jetzt wohnen hier 6 Leute fest, die eng miteinander verbunden sind. Daneben gibt es Freiwillige, die die Buddhismus-Lehrlinge mitbringen um für sie zu kochen.

Ich bin jetzt also da. Wie ich wollte. Die Wüste auf mich wirken lassen und ihr eine zweite Chance geben. Ich bin zwar Gast von Rotem, doch sie ist mit anderen Dingen beschäftigt. Ich habe Erwartungen, dass die Verbindung vom ersten Abend sich durch גie Tage durchzieht, doch das ist nicht so. In ihrer Routine merke ich, wie fremd sie mir ist. Ich bemühe mich, meinen Fokus auf mich zu richten und mich von ihrer Energie zu distanzieren. Eine Trauer ist da. Eine Trauer, die mich wortlos werden lässt. Die mich zweifeln lässt. Die mich unsicher macht, sodass ich mich verstecken will. Ich nehme einen langen Spaziergang, spüre den weichen Sand, die spitzen Steine und die durchsichtigen Jungkristalle unter meinen Füßen. Trotz Winterzeit trage ich einen Tuch auf meinem Kopf um mich vor der Sonne zu schützen. Ich merke, wie all meine Gedanken an mir vorbei fließen, ihren Platz bekommen und weiterziehen. Als ich zurück komme ist die Trauer immer noch da. Ich suche Gespräche zu den Menschen, die mir warm begegnen. Ich teile mich mit. Die Trauer bleibt, sie ist stark und präsent, doch nicht mehr überwältigend. Ich spüre sie ganz klar, direkt neben meinem Herzen.

Ich entscheide weiter zu ziehen. Rotem bringt mich zur Hauptstraße und wir bedanken uns gegenseitig. Sie kennt immernocht nicht meinen Namen, und wenn wir uns wiedersehen möchten, dann muss ich zurückkommen. In dem Moment, in dem sie um die Ecke biegt, merke ich, dass ich meine Schreibsachen und mein Geld vergessen habe. Ich bin sauer auf mich selbst und beschämt. Rucksack und Geigenkoffer packe ich in eine Kuhle im Boden, versteckt von Sträuchern. Ich laufe zurück, querfeld ein, erinnere mich ganz genau, wo ich es vergessen habe und als ich den Rückweg antrete werden meine Schritte langsamer und ruhiger.

Ich mache die Tür auf, sehe erst nur einen Fuß, dann das zugehörige Gesicht. Jule liegt auf dem Boden, unter ihr eine Yogamatte, mit den gespreizten Beinen an der Tür. Sie grinst mich an. Nach zwei Sätzen weiß ich, dass sie Deutsche ist. Ich denke an mein Vorhaben der zweiten Chance, und beschließe offen zu sein. Ich fühl mich wohl mit ihr, sie zeigt mir die Gegend und wir sitzen am Krater, schauen in die Weite, und singen ein Lied:

Tür auf,
Fuß ins Gesicht,
kopf auf dem Boden,
Grinsegesicht.

In meinem Kopf singe ich weiter:

Ein Lächeln das bricht,
das deutsche Gesicht,
mit warmem Licht
vermischt.

Menschen suchen,
von allen Seiten strömen sie,
parallel und kreuz und quer.

Menschen finden,
an allen Orten dieser Welt,
ein Stück von sich im Hier.

Wir kaufen ein, kochen und es ist, als wären wir zu Hause. Als Tulu, der die Wohnung gehört, am Abend zurückkommt, riecht es schon nach Suppe. Wir sitzen auf dem Boden und reden über das Leben, die Natur, die Wüste. Wie viele, schätzt sie mich ein, auf dem Land aufgewachsen zu sein, in der Nähe der Berge.

Wir machen eine Tageswanderung in Stille. Zum zweiten Mal kommen alle Gedanken auf mich zu und ziehen weiter. Ich bin dankbar. Für meinen Weg bis hier her, für alles, was mich zu dem Menschen gemacht habe, der ich jetzt gerade bin. Für meine großartigen Eltern und meine Lehrer. Für die Dinge, für die ich nicht bereit war und für die Menschen, denen ich zu früh begegnet bin. Und dankbar für diejenigen, die mich herausgefordert haben mit ihrem Anders. Ich spüre Wärme und Liebe, und sehe mit einem Lächeln auf dem Gesicht zu, wie alles auf mich wirkt und langsam seinen Platz findet. Ich habe im Gefühl, dass sich ein Ende nähert,  nur weiß ich nicht welches.

Mit schweren Beinen kommen wir zurück. Auf dem Rande des Ramot Kraters treffen wir auf einen jüdischen Schuljungen. Sein bunter Schal vor den Bergen der Wüste zieht mich an. Wir versuchen mit dem Finger, unsere Wanderroute nachzufahren, die von hier ausnur noch eine hauchdünne Linie ist. Er fragt, ob wir bei dem einsamen Baum gewesen sind, dem einzigen Baum weit und breit. Ich wusste nicht, dass er in aller Munde war. Wir geraten in das Standardgespräch des woher, und wie lange schon hier und was und wo jetzt. Er ist überrascht über meine Liebe zu meinem neuen Wohnviertel, das doch so chaotisch sein und gefährlich mit so vielen Sudanesen, die dort leben. Ich schätze ihn als Nord-Tel-Aviv Bewohner ein und daraufhin erzählt er mir seine Geschichte. Er ist in den besetzten Gebieten der West Bank geboren, wo sie nur von Menschen umgeben waren, die alle gleich waren wie sie. Seine Familie ist nach Tel Aviv gezogen, um das Andere kennen zu lernen. Doch die Stadt war hart und teuer und sie haben sich für den Süden und Mizpe Ramon entschieden. Er zeigt auf seine Schule, auf der Straße gegenüber..
Ich bin dankbar, nicht dazu zu gehören. Es gibt mir die Möglichkeit, die Geschichten von jeder Sorte Mensch hier zu hören. Keine(r) verurteilt mich für meine Präsens. Überraschend, als Deutsche. Doch irgendwie sehen mich die Leute hier als neutrale Instanz. Alle erzählen mir von ihrer Wahrheit und alle haben irgendwie Recht. Doch unter einander begegnen sie sich nicht. Sie erzählen nicht ihre Geschichten, und hören auch nicht zu. Ja, vielleicht war deswegen das Friedenstreffen letzte Woche so wichtig. Auch wenn ich mich gefühlt habe, als würden sie alle nur irgendwelche Floskeln austauschen und sich gegenseitig hoch loben für ihre unglaublichen Friedenstaten. Vielleicht kann ich ihren Werdegang zum Frieden überhaupt nicht nachvollziehen, denn ich identifiziere mich mit keiner ihrer Rollen. Bei dem Treffen kam die große Frage auf: „Was wäre, wenn der geborene Jude, doch zufällig als Palästinenser zur Welt gekommen wäre?“ und „Was sind wir bereit (von unserer Identität) aufzugeben?“ Als jüdisches Volk, das sich so sehr danach sehnt, Boden zu fassen und ihren Zusammenhalt findet, indem sie gemeinsam für ein Zuhause kämpfen. Als palästinensisches Volk, so nah der Tradition und dem muslimischen Glauben. Als Mensch, der gelernt hat, die Welt auf eine bestimmte Weise zu sehen, zu leben, zu erleben, zu lieben und zu hassen. Wie weit sind wir bereit, davon los zu lassen, um uns aneinander anzunähern?

„Ein halbes Glas Wasser, mit einem Tropfen schwarzer Tinte: schwarz
Ich fülle das Glas bis zum Rand:
immernoch schwarz
Ich überspüle das Glas mit Wasser so lange, bis die Tinte über den Rand hinausläuft, immer weniger wird und letztendlich die Schwärze verblasst.“

Ich lasse mich hier überschwemmen. Ich habe mich entschieden hier wirklich einzutauchen, denn ich will fühlen, was ich gesehen habe. Mein Herz braucht vertrauen um sich zu öffnen und mein Körper braucht Zeit, sich neu zu formen. Ich gebe Raum für Wörter, die mir in Deutsch kitschig vorkommen. Ich lerne die Reife der Früchte zu erkennen, auch wenn ihre Schale dick ist. Ich tauche in das Leben von Menschen, die mir neue Wege zeigen, begleite ihre Schatten. Ich schaue ihnen zu wie sie lieben und streiten, leben und wahrnehmen, reden und berühren. Ich sauge ihre Gastfreundschaft und Wertschätzung auf, ihre liebevolle, freie, kreative, praktische und spontane Art, bis mein Wasser eine andere Farbe annimmt.

Poly-Rhythmik

Aus dem Busfenster sehe ich ein neues Grün. Es hat einen gelblichen Neon-Glanz und lässt die Wiesen strahlen. Mit den Kilometern verschwindet dieses Grün und der Sand breitet sich aus. Zwischendrin taucht dunkel-grünes Gestrüpp auf.

Ich komme an der Bushaltestelle an, die in der Nähe von dem Ort sein soll, wo das buddhistische Friedenstreffen stattfindet. Die Landkarte zeigt eine kurvige Linie ins nichts. Ich atme tief durch und mache mich auf den Weg. Der einzige Landrover, der an mir vorbeifährt, nimmt mich mit. An uns ziehen gelb-sandige Felsen vorbei, im Hintergrund sind lila-farbene Bergketten zu sehen. Ich bin bezaubert.
Ich werde zu dem Hauptzelt geführt und sehe Ofris Gitarre am Schuhregal lehnen. Ich stelle meine Geige dazu, lege mein Gepäck ab und ziehe meine Schuhe aus. Drinnen sitzen Menschen im Raum verteilt, auf der Bühne ein paar Sprecher, daneben ein Übersetzer für die anwesenden Palestinenser. Ich entdecke meine Gruppe, setze mich zu ihnen, blicke in müde Gesichter, bekomme eine Reihe warmer Umarmungen und richte meine Aufmerksamkeit auf das Panel. Ich bin einen Tag später da als der Rest und platze damit in der Mitte rein. Eine Gruppe von Frauen erzählt, wie sie versuchen, ein Stück Frieden in die Welt zu bringen. Danach kommt die Meisterin auf die Bühne. Ihre Botschaft: Inner Frieden ist der Weg zum Frieden in der Welt. Keine Wut, kein Hass, keine Kritik. Nur Liebe. Und das geht nur zu erreichen, wenn man bei einem Retreat teilnimmt und anfängt zu meditieren. Schnell spüre ich Widerstand in mir aufkommen. Dem dauerhaften Lächeln auf dem Gesicht der Sprecherin, die wie eine Königin angehimmelt wird, glaube ich nicht. Einfach eine allgemein gültige Liebe in sich kreieren klingt zu einfach. Was ist mit der Trauer, der Wut, der Enttäuschung, des Unverständnisses, der Zweifel? Die gibt es doch auch..? Ich habe den Drang mich über meine Kritik und meinen Zweifel mitzuteilen, doch ich finde keine Gleichgesinnten.

Als plötzlich ein Palestinenser im Publikum aufsteht und seine Kritik äußert, ändert sich die Stimmung im Saal und ich spüre Erleichterung. Endlich sind nicht alle einer Meinung. Endlich wird die Diskussion ehrlich, unkontrolliert und pur, mit Raum für Emotion und Meinungsunterschied. Doch das hielt nicht lange an, denn so ein Verhalten ist nicht erwünscht… Die Meisterin ergriff das Wort um die Diskussion zu unterbinden…

Ich versuche meine Aufmerksamkeit auf die Musiker zu richten, die den Abend ausklingen lassen und tanze mit dem Mädchen aus Ramallah. Von allen Richtungen dirigieren sie Kameras auf uns.
Am späten Abend, in dem kleinen Häuschen, in dem wir unterkommen, frage ich meine Freunde, was sie von den Vorträgen mitgenommen haben. Vielleicht kann ich durch sie, dem Inhalt des Seminars näher kommen, durch ihre Erfahrungswelt. Ich versuche ihren wohlgesonnenen Blick nachzuvollziehen und kann mich etwas beruhigen.

Am nächsten Tag genieße ich das Schweigen beim Frühstückstisch. Ich entscheide mich, einfach meinem eigenen Rhythmus zu folgen und erstmal die Umgebung kennenzulernen, bevor ich bei irgendwelchen Programmpunkten teilnehme. Ich packe meinen Geigenkoffer auf den Rücken und klettere barfuß die steinige Sanddüne hinauf. Durch den Regen hat sich eine harte Schicht auf dem sonst so weichen Sand gebildet. Ich bin dankbar für die Konzentration, die dieses Abenteuer benötigt. Oben angekommen setze ich mich hin, mit Blick auf das Gelände und spiele. Menschen laufen unten vorbei und bleiben kurz stehen, machen Fotos, winken. Obwohl ich so weit weg bin, kann mich jeder hören.
Ich folge dem jung-aussehenden Mann den einfachen Weg hinunter, den ich zuvor übersehen hatte. Vor dem Hauptzelt sind die Musiker (Juden und Palästinenser) von gestern und wir beschließen, einen Schattenplatz zu finden und zu spielen. Auch sie haben keine Lust auf das Gerede: „Alle reden sie von Frieden, anstatt sich wirklich zu begegnen.“

Beim Mittagessen weiß ich nicht wohin mit mir. Alle und niemand spricht mich an, ich setze mich zum einen Tisch und will zum anderen. Ich kann mich der Dynamik der Gruppe nach anschließen, Unser Rhythmus ist ein anderer. Irgendwann setze ich einfach irgendwo dazu und warte ab. Ich gehe in die Küche und spüle ab und spüle etwas länger, einfach nur um eine Aufgabe zu haben. Ich versuche mich im Hauptzelt einzufinden, doch mein Gefühl sträubt sich. Ein wenig entwernt sehe ich meine Freunde in einem Kreis sitzen und Musik machen. Ein paar Palestinänser sind dabei und singen mit. Ich setze mich dazu und versuche ihren Rhythmus zu verstehen. Langsam merke ich, wie sich unser Puls angleicht und ich ankomme. Dazugehöre.

Ich möchte nicht euren Weg gehen, sondern den meinen. Ich will mir die Möglichkeit geben, meine eigene Wahrheit zu finden. Eine von Millionen.

Im Schutz der Stille

Die lauten Bässe der Natur-Party drangen so dicht an meine Ohren, also gäb es keine Möglichkeit ihnen zu entfliehen. Ich schwamm den See hinaus, versuchte mich auf die Slagline zu konzentrieren und letztendlich so hoch den Berg hinauf zu steigen, dass ich nichts mehr hörte. Ich wollte einfach nur Stille. Um 6 Uhr Abends hielt ich es nicht mehr aus, verabschiedete mich von meinen Freunden und ging einfach los, gen Norden, in der Hoffnung zurück zu dem Haus auf dem Berg zu finden, das mir Raum gibt, wieder zu mir zu finden. Ein Reise-Ziel ohne Namen, kein Akku und keine Landkarte; all das war mir lieber als der dröhnende Klang in meinem Ohren. 5 Tramps, eine ausgiebe Rechtfertigung für mein Desinteresse an dem Mann neben mir, und ca. 2 Stunden später, kam ich zu dem Ort, wo die gepflasterte Straße auf den Steinweg zum Berg hinauf trifft. Auch der Regen hatte endlich nachgelassen und mit der seltenen Zigarette in meiner Hand, machte ich mich auf den Weg bergaufwärst. Ich war einfach nur froh, draußen zu sein, und um mich herum: Stille. Es machte mir auch nur geringfügig etwas aus, dass ich eigentlich keine Ahnung hatte, wo es lang ging. Als ich ein paar Nächte zuvor hier angekommen war, sind wir den Weg durchs Dunkle mit dem Auto gefahren, daher versuchte ich mich an die paar Bildfetzen, beleuchtet von den Scheinwerfern, und das von Steinen und Gullis erzeugte Ruckeln zu erinnern. Ein kleiner Kompass in mir erahnte die Richtung und ich konnte durch das Licht des Vollmondes die Formgebung der Landschaft deuten. Immer einfach weiter dachte ich, im schlimmsten Fall gibt es dort oben ein Haus mit Licht und Menschen, die mir weiterhelfen können. Nach ein paar hundert Metern meinte ich zu meiner rechten Seite ein Tal wiederzuerkennen, wo ich am Tag zuvor die jungen Kühe getroffen hatte. Als ich die Spitze eines Hausdaches hinter einem Steingeröll erahnte, wurde ich richtig aufgeregt. Ich konnte meine Freude nicht verbergen, kam grinsend zur Tür hinein, zog mir dicke Socken an und machte mich geduldig daran, ein Feuer zu entfachen. Es wurde warm in der kalten Stube und ich schlief ein, mit dem wohligen Geräusch von prasselndem Regen auf dem Welldach über mir.

Es ist nächster Abend und ich sitze mit Natan neben dem Ofen in dem Wohnzimmerteil, der damals das ganze hölzerne Haus ausmachte. 3 mal 3 Quadratmeter vielleicht. Dann kamen nach und nach die Küche, und 3 weitere Zimmer dazu, mit jedem Kind ein Stückchen mehr. Das Wohnzimmer wurde vergrößert und außerhalb entstand ein windgeschützter Eingangsbereich für Schuhe und das Ofen-Holz, eine kleine Terasse mit Blick auf die Hügel und das Sonnen-Deck, das zum kleinen Garten hin reicht. Und jetzt erzählt uns Natan diese Geschichte. Er ist hergezogen und aus der Stadt geflohen. Nach 20 Jahren, in denen er für sein Essen stehlen musste, andere seines Alters zum Kindergarten brachte, ohne selber je mitzumachen, und auf den Straßen der großen Stadt ums Überleben kämpfte, sah er das als seine einzige Alternative. Jetzt vermietet er das Haus an 4 junge Menschen, alle mit dem Wunsch der Natur näher zu sein und gemeinschaftlich zu leben. Er bleibt zum Abendessen und wir schlürfen warme Suppe und knabbern an frischgebackenem Fladen. Ofri und Nor nehmen Gitarre und Shaker und ich komme mit der Geige dazu. Es entsteht ein Spielplatz von Tönen und Sprache, Ofri klimpert mit Nägeln auf den Bassseiten, Nor groovt auf der Ukulele und ich singe von Hexen und queer-feminist-ecological Monstern. Uns ist nichts komisch genug, wir gackern und kichern und lachen und lassen uns von dem gemeinsamen Rhythmus tragen. Wir wissen nicht wohin es geht, doch es gibt keinen Zweifel daran, dass wir auf dem richtigen Weg sind.

Ein Tag im Kibbutz

Als Abschluss zu unserem kurzen Zusammenwohnen fahre ich nach dem Umzug mit Nitai in sein Kibbutz (sozialistische landwirtschaftlich betriebene Siedlung) eine Stunde südlich von Tel Aviv. Wir kommen ein wenig verspätet ins gemeinschaftliche Esszimmer, wo seine Eltern und ein paar andere Familien schon am Essen sind. Dass der Essensraum heutzutage im Kibbutz noch genutzt gibt, ist eher raar. Nicht zum ersten Mal sehe ich in den Gebäuden der Ashkenazi (Die Juden, die aus Europa, Russland und Amerika kamen) die dunklen glänzenden Hölzer und die beigen Farben, die mich an die Wohnung von meinem österreichischen Opa errinnert. Etwas altmodisch könnte man sagen und irgendwie unnahbar.
Wir waschen uns die Hände und ich stutze. Ich finde nicht den üblichen Becher mit zwei Henkeln, den ich sonst aus jüdischen Einrichtungen kenne. Nitai erklärt mir, dass die Leute in den Kibbutzim nicht religiös sind. Ich bin etwas verwirrt und versuche es einzuordnen in meine Israel-Schachteln im Kopf. Wir füllen unsere Teller am Buffet und es wird auf eine Liste geschrieben, was wir essen. Im Nachhinein wird das, zusammen mit allem Service, den Nitais Familie nutzt, abgeglichen mit ihrem Einkommen, welches direkt weitergereicht wird an das Kibbutz. Wir setzen uns zu Nitais Eltern und deren Freunden. Irgendwie passend zu der Einrichtung sind die Themen, über die wir reden. Im Aufenthaltsraum, wo jeder noch einen Kaffee oder ein Stück Kuchen zu sich nimmt, spreche  mein Unverständnis an. Warum wollten die zionistischen Juden denn unbedingt ins „heilige Land“, wenn sie doch gar nicht religiös waren? Also erklärt mir Nitais Mutter, dass die orthodoxen Juden sogar gegen ein eigenes Lang sind, bevor nicht der Messias kommt und das Land offiziell den Juden übergibt. Sie erklärt auch, dass Herzl in der zionistischen Bewegung damals mehrere Länder als mögliche Anlaufstellen für die Juden ausgesucht hatte und es auch mehrere Versuche gegeben hatte, sich dort anzusiedeln, doch hat es eben nie geklappt. Dadurch, dass in Palästina schon einige Juden aus den vergangenen Jahrzehnten, wenn nicht noch weiter zurück, ihre Siedlungen aufgebaut hatten, gab es hier zumindest schon eine Basis. Ich frage sie also über die Siedler in den Territorries und sie erklärt mir, dass ihr Zionismus einen anderen Hintergrund hat. Sie sind eigentlich alle religiös und sehen ihre Rolle als sehr wichtig an, weitere Gebiete des heiligen Landes einzuholen. Genau diese Siedlungen sollen nach Trumps „Friedens-Deal“ zu israelischem Gebiet zählen. Eine Lösung, die mit niemandem abgesprochen ist, den es eigentlich betrifft. Auf den Tisch geklatscht, ohne die 70 Jahre Konflikt nachzuvollziehen. Es wirkt, als wäre es alles einfach nur ein Spiel für ihn und um ins nächste Level zu gerten, muss er eben mal schnell für Frieden sorgen.

Abends besuchen wir Freunde von Nitai. Alle 10 Minuten kommt ein neues Pärchen an und wir machen den Kreis größer, damit sie noch mit rein passen. Die Männer auf der einen Seite, die Frauen auf der anderen. Kann auch Zufall sein…
Alle bringen sie eine Packung Kekse/ Chips oder ähnliches mit. Eine(r) öffnet sie, und dann wird sie im Kreis herum gereicht, so lange bis sie leer ist. Es gibt Minztee und Popcorn. Nitai und ich lehnen höflich ab. In der Mitte ist ein Ofen und immer wieder kommt einer der Hunde zu mir und lässt sich streicheln. Die Athmosphäre ist unbeschwert und ich kann mich für einige Zeit drauf einlassen und mitlachen, bis mir irgendwann langweilig und kalt wird und ich mich freue, nach Hause zu fahren.

Nach einem Frühstücks-Tee, einer Laptop-Session und ein paar Früchten und Nüssen machen wir uns auf den Weg zum Strand. Im Gestrüpp an den Seiten finden wir wilden Spargel um so weiter wir die Dünen hineinstapfen, umso mehr Gepäck lassen wir hinter uns unter Sträuchern oder Bäumen. Der Ort erinnert mich an die Atlantikküste in Portugal oder Holland. Zwischen den Dünen wachsen grüne Büsche, manchmal kommt eine Palme hervor. Wir rennen den Sand hoch und runter, klettern auf einen Baum, hören einen kurzen Knaller und genießen die Schönheit des Ortes. Der Wind bläst Sand in die Augen und erfrischt das Gemüt.

Als der Strand beginnt, verändert sich der Sand unter meinen Füßen. Es kommen Farben dazu, Glasscherben, zerfetzte Nylon-Tüten, Muscheln, Stöcke, Dosen, Plastikflaschen. Wir haben Glück, ab und zu kommt die Sonne raus. Nachdem wir uns von den starken Wellen ein paar mal überspülen lassen stelle ich mich mit dem Handtuch um die Schultern gegen den Wind. Vor mir die Wellen, hinter mir der Strand, nördlich eine Fabrik mit 3 hart arbeitenden Schornsteinen und südlich die Siluhette van Gaza.
Nitai will mir unbedingt noch einen zweiten Wasser-Platz zeigen. Mit den Winterjacken in der Hand laufen wir dorthin. Es ist ein kalter, etwas bräunlicher Fluss, der die Haut unter Wasser gelb-grün schimmern lässt. Die Sonne scheint und schenkt uns einen Moment von Sommer und Feriengefühl. Als wir wieder rausgehen finde ich eine Feuerstelle, bei der ein paat grau-schwarze Kohlestücke liegen und darauf ein halb abgeschmorrter hellgelber Plastikteller. Es haben sich zwei Löcher eingebrannt, die den Teller zu einem Totenschädel machen. Dunkle Zweige liegen drum herum.

Wir kommen zurück ins Kibbutz und machen uns einen richtig großen Salat. Nitais Eltern setzen sich zu uns und ich verstehe zum ersten Mal, was es bedeutet einen Demenz kranken Menschen zu pflegen und um sich herum zu haben. Wie ein Kind wird er von seiner Frau zurechtgewiesen, zur Toilette gebracht und an der Hand genommen. Mir tut es weh, ihn zu sehen. Unglaublich weh.

Ein zweites Mal machen wir uns auf den Weg. Nitai zeigt mir seine Lieblingsaussicht. Dafür klettern wir auf das Hausdach, das früher mal einer reichen arabischen Familie gehört hat. Wir sehen die Wachtürme und die Mauer, die uns vom Gaza-Streifen trennt. Die Sonne bricht durch die dunkel umrahmten Wolken und fällt mit dicken gebrochenen Strahlen auf das Wasser.

Wir gehen weiter und stoßen auf meinen Lieblingsbaum, den Fikus. Die Fäden, die aus den dicken Ästen nach unten wachsen, bilden Seile, an denen wir uns hochziehen. Von dort aus sehen wir, dass er in Partnerschaft lebt, denn auf der anderen Seite kommt ein zweiter Baum zum Vorstein, mit dessen Stamm er verwachsen ist. Sein Partner trägt eine dicke bröckelige Rinde morsche Ast-Ansätze.
Auf dem Weg zurück kommen wir an dem Baum vorbei, der eine ungenießbare Orangenart als Frucht trägt. Es ist der Baum, dessen kräftiger Stamm im Landbau genutzt wird, um die Basis für einen anderen Fruchtbaum zu bilden. Ich erinnere mich an die, mit Alufolie bedeckten Bäume im Norden nähe unserer Mangofarm. Nitai wirft die verschrumpelte Frucht weg und wir gehen nach Hause.

Es wird Abend und Shabbat nimmt sein Ende an. Nitai bringt mich zum gelben großen Tor, dass das Kibbutz vom Rest der Welt trennt.  Wir warten dort ein paar Minuten, bis ein Truck mit zwei jungen Bauern anhält und mich mitnimmt in Richtung Norden.

Ich gehe ein letztes Mal in meine alte Wohnung, bringe in Ordnung, was noch irgendwie in Ordnung zu bringen ist und schließe die Tür hinter mir. Das Treppenhaus vor mir, mit dem offenen Teil für den neuen Lift und dem staubigen Boden, ist durchnässt von dem Wasser, das aus den Löchern im Dach tropft. Ich mache einen großen Schritt über die Pfütze und spüre einfach nur Erleichterung.
Ich steige auf mein Fahrrad. Der Regen hat die Straßen der Ohne-Gulli-Stadt überflutet und meine Jacke bekommt einen senkrechten Streifen am Rücken. Lichter umrahmen die Hochhäuser und lassen sie herausstechen aus dem blickdichten Grau. Ich fahre in mein neues Zuhause, stecke meine nassen Klamotten in die Waschmaschiene, wasche das Geschirr und freue mich daran, dass etwas neues beginnt.

SPIELRAUM und Warum ich das Chaos liebe

Ich fahre mit der Rolltreppe die HaHagana hinauf, direkt bei der Busstation im Süden von Tel Aviv wo mehrere Hunderte Busse ihren Schlafplatz haben. Nach einer Woche München komme ich nun wieder nach Hause. In die Stadt in der ich meine Vielfalt ein Zuhause hat. Ich spüre die Sonne auf meiner Nase und schließe die Augen. Ich will ans Meer. Mit meinem kleinen Köfferchen mache ich mich auf den Weg zu der Bushaltestelle außerhalb dieses Riesengebäudes. Ich weiß zumindest schon mal die Richtung, auch wenn ich noch nicht unter den 20 Bussen unterscheiden kann, welcher mich an mein Ziel führt. Ich laufe mit großen Augen die mir bekannte und doch noch so fremde Straße entlang und fotografiere in meinem Kopf den Mann, der das 4 Quadratmeter große Zimmer mit Türe auf die Straße komplett ausgräbt und den goldbraunen Sand unter dem Boden enthüllt. Ich denke an Luzi und mache noch ein paar Fotos in Gedanken. In einem Secondhand-Laden hol ich mir eine Jogginghose und ein Streifenkleid, beim Markt nehme ich Maiskolben und einen Gratapfel mit und dann schlendere ich zu der Felsenküste des Mittelmeers.

Ich wasche mein Gesicht mit dem salzigen Wasser, atme tief ein und begreife zum zweiten Mal heute, warum ich noch ein halbes Jahr bleiben will. Ich warte auf die Dämmerung, entferne mich ein wenig von den Menschengrüppchen, die allesamt den Sonnenuntergang betrachten und ziehe mich aus. Dann gehe ich langsam los ins kühle Wasser, bis ich einfach losrenne und gegen die kleinen Wellen trete. Ich tauche unter und beschließe sofort wieder rauszugehen. Doch etwas hält mich drinnen. Ich erinnere mich an das Mal, als ich mit Nitai hier zum ersten Mal nackt schwimmen war und ihm dann über den Markt gefolgt bin, wie er bafuß um die Essensreste herumschlängelt und nach dem besten Preis für seine Lieblingsfrucht sucht. Als ich rausgehe kommt mir eine junge Gestalt entgegen und lächelt. Ich gehe schnell raus und ziehe mich warm an, Mütze auf den Kopf und setze mich auf einen Stein, die letzten Schimmer der roten Farbe am Horizont. Ich singe vor mich hin. Etwas sagt mir, dass ich hierher gehöre. Ein Teil in mir hat hier ein Zuhause gefunden. Ich will nicht mehr überleben mit dem Gedanken, dass es ja nur 5 Monate sind. Ich will hier sein, als würde es für immer anhalten. Die Gestalt steht auf und wünscht mir einen schönen Abend, wieder dieses nette Lächeln. Egal wo man hier ist, man ist nie alleine. Hab ich gehört. Ich denke zurück an das Mal, als ich nicht wusste wohin mit mir und einfach auf’s Fahrrad gestiegen bin und in den Plattenladen, den ich so mcohte. Yaron hat mir einen Stuhl und Tee angeboten und das zweite Album von Idan Raichel gebracht mit der Aussage: „Ich will, dass du dich hier ganz frei fühlst. Hör an was du willst und denke nicht, dass du irgendetwas kaufen musst!“ Also habe ich zum ersten Mal „Ale nisa baruach“ (Das Blatt steigt auf im Wind) und so richtig geweint. Ein ganz fremder Mensch war einfach für mich da.
Mit diesen Gedanken mache ich mich also auf den Weg zum Bus und nach Hause. Noch eine Woche und dann ziehe ich weiter, in den Süden von Tel Aviv, da wo ich heute ausgestiegen bin.

Am nächsten Morgen werde ich von hämmernden Geräuschen gewackt und laufe los. Ich sehe die Stadt als einen einzigen Spielplatz, hüpfe und freue mich an den Pflanzen um mich herum. Ich nehme einen unbekannten Weg und entdecke ein kleines Rinnsal an Bach. Ich laufe weiter, und lass mich von der Schönheit der Orte lenken. Ich habe die Zeit und den Blick der Neuen, die alles entdecken will.

Der Blick ist begleitet von dem Gedanken, dass alles irgendwann ein Ende nimmt. Fragen begleiten mich die folgenden Tage, und ein tiefer warmer Schmerz links im oberen Brustkorb. Wir kommen und gehen. Begegnen und entfremden. Das ganze Leben lang bereiten wir uns vor auf den Abschied, der uns in eine andere Welt oder Körper, unter die kalte Erde oder als Asche in den Wind führt. Ich erinnere mich an Maya die mir erzählte, wie sich ihr Herz ganz langsam schloss. Immer und immer wieder öffnete sie es, hier Menschen willkommen und genoss den gemeinsamen Moment bis es wieder sein Ende nahm und die nicht mehr allzu fremden Menschen weiterzogen. Ein Teil von mir sucht nach Beständigkeit und nach offenem Raum und Zeit. Will sich binden and Menschen und einen Ort, an dem wir gemeinsam etwas entstehen lassen.

Nitai hilft mir meine Sachen ins Auto zu packen und wir fahren in meine neue Wohnung. Ein kleines Häuschen, mit einer Art grünen Vorhang und orangefarbenen Trompeten-Blumen, mit Metalltreppe zu einem schmalen Balkon mit der Eingangstür. Wir packen das Zeug in eine Ecke und fahren den kurzen Weg zur Tanzschule. Im Vorraum der Kwutza, wo die Sofas stehen mit der Küchenzeile, begrüßt mich meine einzig deutsche Bekannte in Tel Aviv. Ich freue mich sie zu sehen.

Während ich mit dem Rücken auf dem Boden und den gespreizten Beinen an der Wand daliege, kuschelt sich Yoni an mich. Er bittet mich um Entschuldigung, abgetaucht zu sein. Ich erinnere mich an die einsamen letzten Tage nach der Zeit in München, die voll von Menschen und Nähe, Zuneigung und Geschichte war. Jetzt freue ich mich eigentlich nur, dass er da ist. Ein Mensch, bei dem ich zu Hause bin und meinen Schmerz sowie meine Freude teilen kann.

Dann geht es los. Auch hier kommen Gestalten und gehen. Wir lernen uns kennen, berühren uns, bewegen uns gemeinsam und nehmen irgendwann wieder Abschied. Ich merke, dass ich nicht ganz da bin. Dass mein Blick in die Weite führt. Ich gehe in den Vorraum und setze mich zu meinem Mitbewohner auf die Couch und höre einem Gespräch zu. Die Person neben ihm sieht warm aus. Sie bietet mir eine Massage an und ihre Berührung tut mir gut. Sie erinnert mich, nach dem zu suchen, wo sich mein Herz gehalten fühlt.

Die Tänze verändern sich, die Begegnungen werden intensiver und es ist eine Spur von Witz in der Luft. Und bei jeder Begegnung fühle ich nach, ob ich mich verbunden fühle, was mir gefällt und gut tut und wann ich wieder weiterziehen will. Kurz vor Ende laufe ich in eine leere Ecke und tanze für mich alleine. Es läuft leichte Musik, vielleicht aus einem Film mit Happy Ending. Ich drehe mich und springe und lasse mich von meinem Körper führen. Mir rollt ein kleiner Schaumstoffball vor die Füße und der Spaß beginnt. Mit meinem ersten Tanzpartner des Abends renne ich wild herum und wir powern uns so richtig aus. Ich tanze und spiele und rufe und lache und irgendwie ist plötzlich Raum für alles da. Die Musik verändert sich zu arabischem Pop und alle tanzen einfach so, etwas Gangster, etwas orientalisch. Wow. Erschöpft verlasse ich den Raum, wasche mein Gesicht, trinke etwas und verabrede mich mit dem Fußballer zum Klezmer spielen. Ich bin richtig glücklich, hier zu sein.

Am nächsten Tag zeige ich Yoni mein neues Haus. Wir klettern über die Leiter auf’s Dach und ich blicke über die Dächer meines neuen Viertels. Das erste Mal, das ich durch diese Gassen gelaufen bin, hat mir Eden die gut-richenden Blumen gezeigt. Hier ist einer der Teile der Stadt, wo noch sichtbar ist, dass wir nicht in Zentraleuropa sind und die Gentrifizierung noch nicht Überhand genommen hat. Vielleicht dank den vielen Geflüchteten aus Äthiopen und Eritrea, die hier wohnen. Die Häuser sind klein mit Flachdächern, eng nebeneinander. Zwischendrin tauchen Sträucher, Bäume und Wäscheleinen auf. Die Läden sind klein und vollgepackt und jede Ecke bringt eine Überraschung. Ich mache mich auf den Weg zum Markt um für Shabbat einzukaufen. Es ist ein Markt mit Dach, links und rechts sind Stände mit den immer wiederkehrenden Lebensmitteln und zu den Seiten gehen kleine Gassen ab. Ich wähle einen mir unbekannten Eingang und mir steigt der kalte Geruch von rohem Fleisch in die Nase, gemischt mit Chlor.

Mit schnellen Schritten nähere versuche ich die Gasse hinter mir zu lassen. Meine Aufmerksamkeit richtet sich auf die Musik. An einer Ecke wird gefeiert, tausend Servietten bedecken den Boden, Leute essen und tanzen und rufen laut. Ich suche den Weg zurück zur Hauptstraße um Kakis/Sharon für meinen Mitbewohner zu kaufen. „Es gibt keine, aber du kannst mich haben“ erwidert mir ein Verkäufer. Ich beschließe niemals bei ihm zu kaufen. Mit einem Karton voll von Spinat und Sellerie, Süßkartoffeln und Erdbeeren, mache ich mich auf den Weg nach Hause.

Ganz besonders ein Gefühl begleitet mich. Ich weiß, dass es richtig ist hier zu sein. Ich habe mich dafür entschieden, der Vielfalt an Gefühlen und Menschen und Teilen der Stadt zu begegnen und die romantische Kenn-Lern-Phase hinter mir zu lassen. Ich weiß, dass die Zeit nicht einfach wird, dass ich Dingen begegnen werde, die ich vielleicht lieber nicht sehen möchte und dass mein inneres Chaos nach seinem tiefen Winterschlaf vielleicht wieder geweckt wird. Aber das ist okey. Irgendwie freue ich mich sogar drauf.

Baum, Mond und Stern

Er hat die Lichter angezündet. 9 Kerzen haben nacheinander angefangen zu brennen, eine nach der anderen hat die Erinnerung in mein Gedächtnis gebrannt und den Blick verschwimmen lassen. Sie haben gesungen, auf den Boden gestampft und Kreisel gedreht, Schokoladenmünzen gegessen und selbstgemachte Krapfen verschlungen.

Noch ein paar Minuten zuvor habe ich mich um ihn gesorgt, war mir nicht sicher, ob er sich wohl fühlen würde in der Gruppe, wie es wäre für ihn Shir zu umarmen, die ihren Onezi nur zur Hälfte trug und ihm mit bloßen Brüsten gegenüber stand. Er, der noch vor ein paar Stunden in Nazareth nicht aus dem Auto aussteigen wollte, weil er nicht das Risiko eingehen wollte, dass Menschen über ihn reden, wie er mit einer unbekannten Frau, die nicht seine Ehefrau ist, unterwegs ist.
Ich wusste nicht, wie es für die Gruppe wäre, ihm zu begegnen. Ich hatte kaum Zeit gehabt, um ihn drauf einzustellen und wollte die Intimität des Hauses schützen, respektvoll mit ihrer Offenheit umgeben. Ich wusste nicht, wie sie auf ihn reagieren würden, dem Baumanager meines Hauses in Givatayim, in Trainigsklamotten und offentsichlich aus einer komplett anderen Welt.
Wir sind mit dem Auto gekommen, von Nazareth über Haifa nach Givat Nili. Vor einer Stunde ungefähr waren wir auf einer Straße in Haifa, überfüllt von Menschen, beleuchtet mit Weihnachtslichtern. Am Eingangskreisel sind 3 Symole aufgebaut: Mond, Stern und Tannenbaum, ein Zeichen für die Koexistenz dreier Religionen in einem Ort. Er hatte mir viel erzählt auf unserer Fahrt über die Entstehung der Religionen, über den Respekt der Muslimen gegenüber anderer Religionen. Im Islam, eine Religion die nach dem Judentum und Christentum entstanden ist und den sogenannten letzten Messias Mohammed gebracht hat, wird nicht nur der eigene Brauch ausgeführt, sondern mitgefeiert mit all den anderen Festivitäten. Jetzt war Husam also mitten drin, im Haus der Einhörner und frei ausgelebten Sexualität. Er saß am Rand, begnügte sich zurückhaltend mit etwas Salat und Wein. Nach dem Essen wollte Husam ein paar Worte aussprechen, zu der liebevollen Art miteinander umzugehen, sich bedanken und die Gruppe mit der intimen Zeremonie alleine lassen, doch als Gegenzug wurde er eingeladen um die Hanukia (den 9-fachen Kerzenständer) anzuzünden. Es war ein Moment des Bündnisses, des Willkommen-Heißens, des gelebten Wiederstandes gegen Segregation und ein Ausspruch der Liebe und des Teilens. Ein Moment der Verbindung von Baum, Mond und Stern.

Dieser Moment, der einfach entstanden ist, hat mir gezeigt, wie wertvoll es ist, hier zu sein. Unsere Rolle im Leben ist nicht immer deutlich. Manchmal suche ich verzweifelt danach, will ihr einen Namen zusprechen, sorge mich darum, die richtigen Worte zu finden und das Richtige zu tun. Ich vergesse, wie viel unsere Präsenz alleine ausmacht. Wie viel wir sagen, in dem wir sind.